25 Jahre später... Das scheinbar beschauliche Städtchen Twin Peaks an der Grenze zu Kanada hat sich verändert.
Woran man das erkennt? Zuallererst einmal an den wunderbaren Schauspielern, die fast allesamt zu diesem Serienereignis zurückgekehrt sind. Ja, sie haben sich verändert und doch sind sie noch die gleichen Figuren: Hawk, Andy, Lucy, Bobby, Shelly, Norma, Ben, Nadine, James...
Oder nicht?
Ja, da ist natürlich auch Agent Dale Cooper mit von der Partie. Ist er der gleiche? Dazu sage ich nichts. Ich will überhaupt wenig zur Handlung und zu den Figuren sagen, sonst wäre das alles nicht mehr so überwältigend. Viele der altbekannten Schauspieler sind dabei, einige fehlen, manche wurden ersetzt. Gerade das Alter, das die einst 25 Jahre jüngeren Schauspieler nun mehr auf dem Buckel tragen, ist allein schon sehenswert.
Aber verdammt nochmal, viele starben. Während, nach und vor den Dreharbeiten. Am rührendsten sieht man das an der Log Lady oder Catherine E. Coulson, die bereits 2015 an Krebs verstarb und der sowohl eine Episode unter ihrem bürgerlichen Namen, als auch unter ihrem Rollennamen Margaret Lanterman gewidmet wurde. Die Art und Weise, wie Lynch sie über das Telefon mit Hawk inszeniert hat, ist wirklich grandios. Überhaupt bietet fast jede Episode im Abspann einen verstorbenen Bekannten der Zeit- und Twin-Peaks-Geschichte, den oder die man als das von Lynch so oft beschworene Gespenst der Elektrizität so lange betrachten kann, bis man selbst tot ist. Ich nenne hier keine Namen, weil sonst so viele vergessen würden.
Wer bis jetzt nicht mitgekommen ist, sieht natürlich ein hauptsächliches Problem: Twin Peaks kann man eigentlich nicht einfach mit der 3. Staffel beginnen. Vor 25 Jahren wurde auf die Fernsehlandschaft so ein Dampfhammer mit diesem Ding losgelassen, dass es meines Erachtens eine völlig andere Erfahrung ist, diese Filmfilmwelt ohne vorhergehende Beschäftigung mit den ersten beiden Staffeln reinzubingen. Da geht einfach die ganze Mythologie flöten, dachte ich zunächst. Das ist wie Tick, Trick ohne Track, wie Fix ohne Foxi, wie Bat ohne Man, Madonna ohne Guy Ritchie oder Britney ohne Spears.
Aber Moment! Madonna und Guy Ritchie kommen ja ganz gut ohne einander zurecht. Und ja, ich bin der Meinung, man kann diese irgendwie auch neue Serie tatsächlich auch unbedacht sehen, ohne die anderen Staffeln zu kennen. Wer weiß, wie unbedarfte Serienjunkies hier einen Einstieg finden? Mich interessiert das jedenfalls sehr und ich bin gespannt, was die Zeit mit sich bringt. Angucken kann man die ersten beiden Staffeln ja immer noch. Ich habe ja auch einen persönlichen Fehler gemacht, dass ich Blade Runner 2049 und den alten Blade Runner nacheinander angeschaut habe. Natürlich ist Blade Runner 2049 ein grandioser Film. So ist das eben mit den Emotionen und der guten alten Zeit.
Was gibt es zur Neuauflage so einer sagenumwobenen Serie wie Twin Peaks noch zu sagen? Wie gesagt, ich möchte zum Inhalt nichts sagen, um den Kennern des vorherigen Werks nicht diese Erfahrung zu nehmen, die ich beim Anschauen hatte. Handlungsmäßig bewegen wir uns aber schon lange nicht mehr in den Gefilden vom Mord um die Ballkönigin Laura Palmer. Und doch geistert auch ihr Gesicht noch immer als erstes Bild jeder Episode vor dem Hintergrund der unheimlichen Wälder von Twin Peaks. Und ja, Laura kommt wieder. Aber anders, als gedacht. Was soll ich also sagen zur Handlung? Ich könnte da schon so einen gewissen Grundkonflikt beschreiben, aber das wäre aus meinem Empfinden echt schon zu viel. Einigen wir uns einfach, dass es eine Mysterie-Serie mit surrealen Anleihen ist, die sich im Spannungsfeld FBI, US-amerikanisches Klein- und Großstadtleben und Übersinnliches bewegt.
Nichts mehr mit: "Laura, Laura, Laura... Leo, no!"
Und tatsächlich, lassen wir die ganze Geheimniskrämerei beseite: es gibt eine Handlung! Und die ist überraschenderweise sogar ziemlich zugänglich und saumäßig cool. Schiebt man zumindest die Metaphysik und Kunstsprache von Lynch etwas ins Abseits und akzeptiert sie als das, was sie ist: nicht zu verstehen. Das Schöne an dieser Reunion ist, dass man trotz der Auftritte der lieben alten Bekannten und vieler neuer Figuren (inklusive der Gastauftritte bekannter und beliebter Schauspieler wie Jim Belushi oder Jennifer Jason Leigh) verdammt gut unterhalten wird. Der absurde und manchmal nicht nur fast, sondern diesmal lächerlich wirkende Humor von David Lynch sind ein großer Fluchtpunkt, der weitreichend ausgespielt wird. Manch einer ist vielleicht sogar genervt vom fehlenden Ernst dieser Staffel. Zu Beginn war ich selber etwas enttäuscht, aber man kann das Unverständliche von Lynch so einfach besser aushalten. Denn davon gibt es noch und nöcher.
Gibt es eine beste Episode?
Ja, die gibt es. Ganz klar Episode 8. Titel: "Gotta Light?" Hier schießt Lynch den Mystery-Vogel ab. Also nicht Waldo (oder von mir aus die Eule), sondern das ganze uns bekannte und unbekannte Universum. Das Rätsel der Sphinx quasi. So etwas hat man selten gesehen und wird man im Fernsehen nur selten zeigen. Und wer weiß, ob das überhaupt im herkömmlichen deutschen Fernsehen kommen wird? Wieder einmal (wie in The Shining, The People Under the Stairs oder Children of Men) dürfen wir als Zuschauer zu den markerschütternden Klängen von Pendereckis "Threnody for the Victims of Hiroshima" die Katastrophe erleben. "Gotta Light?" windet sich durch alle Phasen des Werks von David Lynch und kann so eigentlich gar nicht allein geschaut werden und dann irgendwie doch wieder. Eraserhead, Mulholland Drive, Lost Highway und der ganze Rest lassen grüßen (wie insgesamt die ganze Staffel mit Verweisen nicht geizig ist), sind aber vielleicht auch nur eine Blaupause für David Lynchs Kunst. Diese Episode ist die pure Faszination und verdient einen Kinosaal.
Ich hatte ja zu Beginn wirkliche Bedenken, dass die Twin-Peaks-Neuauflage nur im völlig Geheimnisvollen mit Stimmungsbildern rumeiert und nirgendwo einen Anfang und sicher kein Ende findet. Doch ich habe mich getäuscht. Neben dieser einen Ausnahmefolge bieten David Lynch und Mark Frost (stimmt, da war ja noch wer) ein endloses Panorama an Americana und Popkultur, die mit tausenderlei Anspielungen jongliert und dabei doch so selbständig und eigenwillig ist, dass man sie einfach lieben muss. Aus einem Guss ist natürlich auch das Gesamtkunstwerk, das Lynch und Frost hier beide am Drehbuch zu jeder Episode und Lynch in seiner Komplettregie geschaffen haben. Ebenfalls einzigartig und so nicht in den ersten beiden Staffeln umgesetzt, weil Lynch lieber Wild at Heart gedreht hat (was ja kein Fehler war).
Angelo Badalamentis Soundtrack ist - wie nicht anders zu erwarten - nach wie vor und immer wieder zeitlos. Ob in der transzendentalen Yogastunde oder beim schwarzmetallischen Lesezirkel mit Vampirgummibärchen. Doch diesmal legt Lynch aus seiner persönlichen Jukebox noch einen Holzscheit drauf. In jeder Episode (meist am Ende) spielen im "Roadhouse" (dem coolsten Club in Twin Peaks, der eigentlich The Bang Bang Bar heißt) eine (meist reale) Band oder ein Künstler. Hierunter die Chromatics, Sharon van Etten, Lissie oder Au Revoir Simone. Am eindrucksvollsten sind für mich die Nine Inch Nails eingewoben, Rebekah Del Rio (bekannt als "Playbackerin" aus Mulholland Drive), Eddie Vedder (von Pearl Jam) und natürlich die gute Julee Cruise (die ja eine altbekannte Roadhouse-Sängerin ist). Die fiktive Serienband mit dem etwas einfallslosen Namen Trouble kickt ebenfalls ordentlich Arsch und hat mit David Lynchs Sohn Riley an der Gitarre einen prominenten Familienvertreter dabei. Der Song "Snake Eyes" erinnert mich hierbei an das von mir unglaublich geliebte "Ms. 45 Dance Party" von Joe Delia (Die Frau mit der 45er Magnum).
Nun gut, wo wir schon bei Vätern und Söhnen sind, möchte ich etwas näher auf eine Thematik der neuen Twin-Peaks-Staffel eingehen: Kinder. Hört sich zunächst komisch an, zieht sich aber interessanterweise etwas versteckt durch die gesamte Staffel. Zuvor ist mir das bei Lynch noch nie aufgefallen. Einer der tragischsten Momente hat mich hierbei genauso schockiert wie mein erstes Mal Assault on Precint 13 von John Carpenter ("Hey, this is regular vanilla..."). Mehr sage ich aber nicht.
Der Blick von David Lynch auf das, was Kindheit heute ist oder sein könnte, ist für mich sehr spannend. Lynch macht hier eine sozialkritische Ebene auf, die mir bei ihm noch nirgends wirklich aufgefallen ist. Ein verwahrloster Junge mit einer Tüte Chips und seiner abwesenden Junkie-Mutter macht mich dabei besonders betroffen, da solche Szenerien der Realität entsprechen. Klassischerweise gibt es aber auch noch Väter, die ihre Söhne opfern. Kennt man ja schon aus der Bibel, nur bei Twin Peaks werden sie wirklich geopfert. Oder doch nicht?
Am Ende jedenfalls wird man sehen, dass diese Komponente letztlich immer schon bei Lynch enthalten war. Das Böse hat eben viele Gesichter und ist nicht nur ein langhaariger Mann in Jeansjacke, der hinter dem Kinderbett lauert. Nein, das Böse findet in der Familie, im Verwandtenkreis und im näheren Umfeld statt. Das Böse kann auch die Mütter treffen. Bob ist überall und nirgends. Auch wenn da nur noch eine grüne Ghetto-Faust am Ende hilft (eine Szenerie, die mich seltsamerweise an Five Night's at Freddy's erinnert hat). Wie gesagt, wer meine diesmal sehr kryptischen Anspielungen nicht versteht, der möge mir verzeihen. Ich kann hier einfach nicht mehr verraten.
Was gibt es schlechtes zu sagen?
Viele werden die "Special Effects" nicht gut finden (ich kann das eigentlich nicht CGI nennen). Das war in den ersten Staffeln so, weil damals im Fernsehen noch nichts anderes für das Budget möglich war, aber heute gibt es dafür normalerweise keine Entschuldigung. Wobei ich etwas übertreibe, da das so nicht ganz stimmt und schon gute Effekte dabei sind. Ich spreche hier natürlich von David Lynchs skulptureller Begabung, die man ja in manchen Dokus schon beeindruckend beobachten durfte. Manche Effekte sind aber schon, sagen wir mal, sehr speziell. Ich bin mir da nie so ganz sicher, ob Lynch nicht extra etwas peinliche Jahrmarktseffekte nimmt, um sich gegen die ganze Perfektion abzugrenzen. Darüber können andere gerne urteilen, mich stört das an der ansonsten perfekten Bildsprache. Vielleicht verstehe ich es aber auch nicht.
Zur deutschen Synchro, die bei der Neuauflage von Akte X ja schon durchgefallen ist, kann ich nichts sagen, da ich mir die Scheiben aus England importiert habe. Ich finde es unaushaltbar, dass ich als Fan darauf angewiesen bin, irgendwelche Streaming-Abos abzuschließen, die eine normale Veröffentlichung behindern. Aber da bin ich altmodisch.
Ja, wie enden? Gar nicht. Gerüchten zufolge wäre eine weitere Staffel vorstellbar. Ich glaube allerdings nicht daran. Denn irgendwann ist doch auch gut?
Der Tod ist unausweislich. Vielleicht ist das die einzige Botschaft, die Mr. Lynch uns und sich selbst beibringen will.
Ihr wisst ja: "I'll see you in the trees..." und "The Magician longs to see... Fire... Walk with me..."
10/10