Eine Kohlebogenlampe explodiert. Schöpfung und Zerstörung. Urknall und Big Bumms!
Dissonanz. Kamera läuft. Weiß. Schwarz. Ton, Zahl.
Ein Penis! Erigiert. Skandal!
Licht, Dunkelheit, Tod. Ein früher Zeichentrickfilm. Eine Frau wäscht sich im Fluss. Der Film steht kopfüber. Das Filmband läuft weiter. Hände, die sich reiben, waschen? Weißes Bild. Ein Teufel springt aus einer Box. Jahrmarktszauber. Stummfilmzauber. Ein lächerlicher Schlafmützenmann flieht vor Freund Hein. Slapstick. Unterhaltung. Film im Film.
Dann: Eine Vogelspinne. Gruselig. Ein Schaf wird geschlachtet, blutet aus. Wolle, Dissonanz. Ein Auge voller Angst oder Tod, Innereien quellen hervor. Purer Gore. Eine Kreuzigung. Nägel werden durch die Handpalmen getrieben. Tod. Eine graue Wand. Ich denke an Eraserhead. Nur nebenbei. Ein Wald. Auch eine Wand. Winter. Ein spitzer Zaun. Kann man sich verletzen. Ein schmutziger Schneehaufen.
Ein Leichenschauhaus. Eine tote Frau, ein Mund, ein Gesicht. Ein Junge liegt auf dem Totenbett. Er ist aber lebendig. Ein toter Mann ist auch da. Geräusche, Tropfen. Hände, zusammegelegt. Füße. Totenstarre. Dann reißen die Augen der toten Frau plötzlich auf! Ein Schreckmoment. Jump-Scare nennt man das, glaube ich.
Der Junge erwacht. Scheiß Wecker. Er dreht sich nochmal in seinem weißen Laken, kann aber nicht mehr einschlafen. Es tropft, es schlägt, scheiß Uhr, denkt er. Der Junge sieht sich um. Weiße Wände, nix los. Er setzt seine Brille auf und holt ein Buch hervor. Eine schwedische Ausgabe von Lermontows Ein Held unserer Zeit. Der Junge liest.
Die Musik schwillt wieder an, verklingt. Der Junge hört auf zu lesen. Er sieht an die Wand, ertastet ein dort erscheinendes Gesicht mit seiner Hand. Ein Frauengesicht. Ist es seine Mutter? Es sind zwei Gesichter. Eine gute und eine böse Mutter? Eine tote und eine lebendige Mutter? Eine Mutter, die gut genug ist oder eine, die ihn nie geboren hat? Man weiß es nicht. Das Gesicht verschwimmt. Wieder schwillt die Musik an. Die Mutter schließt die Augen. Wieder das Gesicht des Jungen, das in die Kamera blickt. Der Junge möchte gesehen werden. Doch niemand ist da. Existiert er dann?
Persona
Die Titel. Es tönt. Persona: die Maske. Lars Johan Werles disharmonische Sphärenmusik bömmelt über die Fjorde. So muss das sein.
Regie: Ingmar Bergman. Hauptdarstellerin ist Liv Ullmann (neben fast allen Bergman-Filmen hat sie in Die Brücke von Arnheim, The Night Visitor oder auch Kalter Schweiß mit Charles Bronson gespielt). Die andere Hauptdarstellerin ist Bibi Andersson (Der Brief an den Kreml, Ich hab' dir nie einen Rosengarten versprochen oder Gefährliches Dreieck von James Toback). Sven Nykvist ist einer der ganz großen Kameramänner (Der Mieter, Auf ein Neues, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Chaplin, Schlaflos in Seattle, etc.). Zu Bergman möchte ich eigentlich nicht großartig was sagen. Er ist filmhistorisch anerkanntermaßen einer der besten Filmemacher aller Zeiten (zum Beispiel Das siebente Siegel, Schande, Wilde Erdbeeren, Fanny und Alexander)
Handlung? In Persona geht es um die Schauspielerin Elisabeth Vogler, die auf der Bühne einen psychischen Zusammenbruch hat, während sie die Elektra spielt (das antikgriechische Schnuckelchen, die ihre Mutter töten wollte). Elisabeth redet einfach nichts mehr, auch wenn sie keine physischen Probleme zu haben scheint. In der Psychiatrie stellt man ihr zur Betreuung die "Krankenschwester" Alma zur Seite. Bald schon soll Alma mit Elisabeth in ein Sommerhaus auf einer abgelegenen Insel, wo man sich Gesundung von ihrem scheinbaren Burnout verspricht. Doch das Schweigen von Elisabeth macht der etwas einfältigen Alma zunehmends Probleme. Sie beginnt persönliches von sich zu erzählen und verfällt immer mehr in eine Isolation, die sie langsam zerfrisst. Denn Elisabeth antwortet einfach nicht. Während Elisabeths Ehemann erscheint und Alma als seine Frau anspricht, geraten Realität und Phantasie aus dem Gleichgewicht. Als Alma dann noch das Foto von Elisabeths Sohn sieht, beginnt sie Elisabeth eine Geschichte (oder Wahrheit) zu erzählen, die sie sich selbst nicht erzählen oder eingestehen kann. Wo beginnt und endet der Hass auf sich selbst und worin liegt der Hass auf den anderen begründet (oder sogar der Hass auf das eigene Kind)?
Ich muss erwähnen, dass dieser Film von 1966 vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten und prüden deutschen Galaxis mal ab 18 Jahren freigegeben war, jetzt ist er ab 12 und es dürfte nicht verwundern, wenn er in irgendwelchen Kunst-LKs behandelt wird. Ich muss auch noch hinzufügen, dass Bergmans Film Das Schweigen von 1963 ein Bild-Zeitungs-Skandal war, weil die von Ingrid Thulin dargestellte Figur darin masturbiert hat. Bergman zeigte sie allerdings nur auf dem Bett liegend, den Kopf zur Kamera, die Hand irgendwo Richtung Schritt. Lächerlich heutzutage. David Lynch hat das mit Naomi Watts in Mulholland Drive etwas pikanter zitiert. Bei Persona hat Bergman für die Sittenwächter aber dann den Vogel abgeschossen. Ich meine, wer zeigt schon einen erigierten Penis gerade mal eine Nanosekunde lang und kommt ungeschoren davon? Der Schnittbericht hierzu hätte mich wirklich interessiert, falls das jemals geschnitten wurde. Aber auch sonst gibt es durchaus Gewalt und Gore (Schlachtung eines Schafs, Kreuzigung, der brennende Mönch Thích Quảng Đức, den die meisten wohl vom Cover von Rage Against the Machine kennen). Darüber hinaus gibt es noch explizit-erotische Erzählungen sexueller Stelldicheins, die den ein oder anderen Bundesbürger damals sicher schockierten (Scheiß auf Shades of Grey, Mutti!). Zuletzt ist die surreale Handlung, die man gar nicht so richtig verstehen kann und soll, auch nicht schön für Herrn Otto Normal.
Man könnte ganz viel über diesen Film schreiben und es wurde auch schon sehr viel über ihn gesagt. Persona hat schon dutzende Interpretationsversuche erfahren, dass man schon fast denken könnte, dass das langweiliger Uni-Schmonzes ist. Trotzdem möchte ich Persona als absoluten Klassiker des Psycho-Mystery-Horrors mit Doppelgängermotiv und Anklängen von Vampirismus stark machen. Auch wenn Langeweile für viele hier groß geschrieben werden wird und nichts geboten wird, was ich hier süffisant verspreche, Persona ist einfach genial. Ich habe mir diesen Film Anfang 20 ein paar Monate lang jeden Tag (!) angeschaut, so eine Faszination hatten diese Bilder und diese Geschichte auf mich. Zugegebenermaßen im schwedischen Original. Deutsch ist es etwas altbacken. Außerdem kennt ihr ja meine Liebe für die Klänge des nordischen Kreisch-, Grunz- und Frostmetals.
Wichtige Einflüsse, die Persona auf die Filmgeschichte hatte, sind zum Beispiel ziemlich direkt Mulholland Drive von David Lynch, Robert Altmans Images, David Finchers Fight Club, Aronofskys Black Swan oder Lars von Triers Melancholia. Persona ist ein absoluter Klassiker, den man nicht aufgrund seines Alters und seiner scheinbaren Spinnweben unter den Achseln zum alten Eisen legen sollte. Immer wieder bricht der Film, bricht die Realität (oder die Fiktion?) in den Film herein, bis am Ende alles in Frage gestellt wird. Jodorowsky und Der heilige Berg sind hier nicht fern.
Wer keinen Bock auf den ganzen Film hat, dem seien die ersten paar Minuten unbedingt ans Herz gelegt. Diese paar Minuten sind mitunter das Beste, das ich filmisch kenne und ich finde, jeder sollte das mal gesehen haben.
10/10