Knapp 10 Jahre nach seiner Veröffentlichung habe ich Martyrs endlich akzeptiert und kann ihn als den grandiosen Film genießen, der er ist. Verstanden habe ich das aber erst, als ich mir letztens Die Passion der Jungfrau von Orléans angesehen habe. Dieser Stummfilm aus dem Jahr 1928 ist vom dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer, der gemeinhin als einer der größten Regisseure des 20. Jahrhunderts gehandelt wird und seine Jeanne-d'Arc-Verfilmung als einer der besten Filme der bisherigen Filmgeschichte.
Moment, ein "Torture-Porn" aus dem Jahr 1928 als bester Film aller Zeiten? Nun ja, vielleicht sagen wir besser "Terrorkino", was ein viel besserer Begriff hierfür ist, den der von mir hochgeschätzte Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger geprägt hat. Der zweite Akt von Martyrs ist aus meiner Sicht Pascal Laugiers vollkommene Verbeugung und Weiterentwicklung vor der Schablone von Dreyers kirchlicher Terrordarstellung in Die Passion der Jungfrau von Orléans. Das ist nicht nur so hergesagt, sondern es gibt stichhaltige Indizien. Man muss nur Maria Falconettis Gesicht als Jeanne neben das von Morjana Alaoui als Anna nebeneinander legen und versteht sofort die Zusammenhänge. Gerade die Betonung auf die weit aufgesperrten ins Leere blickenden Augen und das Martyrium als den Körper überwindende Transzendenz sind hier unübersehbar.
Moment, Jeanne (also JohANNA) und Anna sind von der Namensherkunft ebenfalls gar nicht so weit entfernt. Wo Jeanne etymologisch noch auf die "Gnade Gottes" verweist, ist Anna nur noch die "Gnade", ebenfalls etwas, das ins gottverlorene Weltbild von Martyrs perfekt passt. Aber es gibt noch mehr Bildmaterial. Jeanne werden die Haare kurzgeschnitten, wie Anna, nur dass es in Laugiers Version zeitgemäß etwas brutaler zugeht. Wobei man sich hier ebenfalls nicht täuschen lassen darf, da Die Passion der Jungfrau von Orléans zur damaligen Zeit auf Betreiben der Kirche Zensurkürzungen von satten 15 Minuten über sich ergehen lassen musste, dass es mehr als einen wunderbaren Schnittbericht gegeben hätte. Überhaupt ist die Fassungsgeschichte von Dreyers Meisterwerk sehr problematisch, da man die restaurierte Version nur als "bestmögliche" Auslegung eines auf ewig verschwundenen Originals akzeptieren muss. Die Zensur rund um Martyrs spricht da Bände und dass die damalige französische Kulturministerin Christine Albanel, die sich für Laugiers Film eingesetzt hat, selbst Schriftstellerin ist, zeigt mal wieder, dass die Franzosen uns gegenüber hier nicht nur politisch klar im Vorteil sind.
Kurz und gut, Die Passion der Jungfrau von Orléans ist ein Film, der 80 Jahre vor Martyrs schon in eine ähnliche Kerbe geschnitten hat und sich um den realen "Prozess" gegen die damals 19-jährige (!) Märtyrerin Jeanne d'Arc (1412-1431) dreht, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde und mittlerweile die Säulenheilige von Frankreich ist. Von den unzähligen Stoffverarbeitungen und Verfilmungen seien nur ein paar genannt: Jeanne d'Arc (1900) von George Méliès, Joan of Arc (1948) mit Ingrid Bergman, Der Prozeß der Jeanne d'Arc (1962) von Robert Bresson, Saint Joan (1977) von Otto Preminger und Jean d'Arc (1999) mit Milla Jovovich.
Die Gemeinsamkeiten von Die Passion der Jungfrau von Orléans mit Martyrs sind wirklich frappierend und zeigen Pascal Laugier wieder mal als einen Regisseur, der sich in der Filmgeschichte auskennt und das Kino vor allem verehrt. Da passt es natürlich gut, dass Martyrs einem gewissen Dario Argento gewidmet ist. Die Verbindungen zu ihm sind für mich sehr deutlich in Richtung Suspiria und Inferno, da das "Haus", in dem Anna ihr Martyrium ertragen muss, wieder mal eines mit einem zwar nicht dunklen, aber geheimen Keller ist. Diese ganze Architektur ist ähnlich irreal und phantastisch, wie schon in Saint Ange. Verbindungen zu Argentos Tenebre wiederum verweisen auf den eher klinischen Stil, der in der Opulenz von Suspiria und Inferno so nicht vorherrscht, die allerdings von der Erzählstruktur zu dem, was in Martyrs geschieht, eher passen. Überhaupt erzählt Martyrs eine ganz und gar uneinschätzbare Geschichte, was ganz viele Formen von oberflächlicher Realität anbelangt.
Kommen wir trotzdem zur Oberfläche. In einer Rahmenhandlung oder einem Prolog erfährt man von der Flucht des circa 10-jährigen Mädchens Lucie im Jahr 1971, das lange Zeit auf die perverseste Art und Weise körperlich und seelisch missbraucht wurde. Lucie wächst schließlich in einem "Waisenhaus" auf (das eher wie eine problematische Psychiatrie aussieht) und redet mit niemandem, außer mit ihrer etwas jüngeren Freundin Anna, die ihr hilft, sich zu regulieren. Lucie wird aber ständig von Halluzinationen heimgesucht, in denen sie von einer verstümmelten Frauengestalt malträtiert wird.
Die eigentliche Haupthandlung setzt 15 Jahre nach Lucies Befreiung ein (also mitten in den 80er Jahren), wo der Zuschauer eine scheinbar stinknormale französische Bourgeoisie-Familie (Vater, Mutter, Sohn, Tochter) kennenlernt, die von einem Home-Invasion-Horror heimgesucht wird, der sich blutgetränkt gewaschen hat. Ohne zu viel zu verraten, geht es weiter mit der Geschichte von Lucie, Anna und der verstümmelten Frauengestalt. Dies verwandelt sich allerdings bald hin zu dem zuvor bereits beschriebenen Martyrium, in dem es weitere missbrauchte Frauengestalten gibt, die sowohl aus der Vergangenheit, als auch aus der Gegenwart kommen.
Insgesamt sollte Martyrs übrigens nicht als blutiges und billiges Ramschfilmchen angesehen werden, sondern als ernsthafte Kinematographie, die auf allen Ebenen funktioniert. Gerade die extreme Körperlichkeit aus Blut und Schmodder ist herausragend fürs Genre und zeigt die Maskenbildner-Kunst von Benoît Lestang (Manderlay, Schmetterling und Taucherglocke, Wax Mask) auf beeindruckende und bedrückende Weise, ohne die Martyrs sicher nicht diese spürbare Wirkung hätte. Lestang hat sich kurz darauf leider mit nur 44 Jahren das Leben genommen.
Schauspielerisch sind die Damen nicht nur abartig gefordert, was die Grenzen des Darstellerischen anbelangt, sondern mit Morjana Alaoui (Die zwei Leben des Daniel Shore) und Mylène Jampanoï (Laurence Anyways) außerhalb der Verstümmelungen sehr attraktiv besetzt. Sogar Laugiers Filmemacher-Kollege Xavier Dolan (Ich habe meine Mutter getötet) hat als Sohn eine kleine Gastrolle. Als Sektenpäpstin glänzt die ehrwürdige kanadische Theaterschauspielerin Catherine Bégin, von der ich wieder mal Assoziationen hinsichtlich einer gewissen Helena Markos aus Suspiria habe.
Als Schande empfinde ich, dass der Sountrack von Willie und Alex Cortés unter dem Namen Seppuku Paradigm meines Wissens nach noch überhaupt keine ordentliche Veröffentlichung bekommen hat. Die unglaublich düstere Drone-Electronica hüllt die Brutalität des Gezeigten in eine - wie ich finde - doch noch irgendwie hoffnungsvolle Aura des Transzendenten (um was es in Martyrs schließlich geht). Außerdem bieten der Abschlusssong unter dem Titel "Your Witness" und die Postklassik von Goldmund ("My Neighbourhood") einen Gegenpol zum gleißenden Horror des Nichts, der im Auge des Todestunnels verschwindet. Ein großes Versäumnis, so etwas nicht zu veröffentlichen und ähnlich ärgerlich wie die längst vergriffene Kleinstauflage von Irréversible des Daft-Punk-Tüftlers Thomas Bangalter.
Nun ja, wie man sieht, empfinde ich Martyrs mittlerweile nicht nur als absolutes Horror-Meisterwerk, sondern als filmischen Klassiker, der sicherlich die Zeit eine Weile überdauern wird. Die Verbindung zu Die Passion der Jungfrau von Orléans war dieses Mal für mich einfach so überdeutlich. Bevor Jeanne bei Dreyer den Feuertod stirbt, wird noch ein Baby gezeigt, das gerade von der Mutter gestillt wird und kurz aufschaut. Am Ende nach Annas "Kreuzigungs"-Transzendenz, meine ich ebenfalls einen Babyschrei zu hören. Eindeutig kann ich das allerdings nicht bestätigen. Aber aus all diesen Gründen ist Martyrs für mich ein vielschichtiges Puzzle, das auf so vielen Ebenen wie Saint Ange stattfindet und Laugiers einmalige Handschrift zeigt. Auch die doppelten (oder sogar vierfachen) Frauencharaktere, von denen man nicht weiß, ob sie nur ein einziges gespaltenes Bewusstsein sind, ist wieder vorhanden.
Martyrs ist ein unglaublich reicher Film. Gerade das Trauma und der psychische und körperliche Missbrauch sind so zentral und werden in der Öffentlichkeit zu oft totgeschwiegen, dass ich es gut finde, wie der Film darstellerisch so drastisch unter die Haut geht. Man muss einfach sehen, dass Martyrs einerseits zwar völlig phantastische und überhöhte Gewalt darstellt, die Realität von vielfältigem psychischem, körperlichem und sexuellem Missbrauch allerdings künstlerisch nicht besser dargestellt werden kann. Die Betonung zu Beginn, dass Lucie nicht sexuell missbraucht wurde, ist dabei so absurd, wie richtig. Denn wiederum ähnlich wie bei der "Jungfrau" Jeanne d'Arc geht es in Martyrs um die "heilige" Folter und den puren Terror für eine ach so "gute" Sache. Was damals eine ultrabürokratische Institution wie die Kirche als historisches Verbrechen protokollierte, kann in einer heute gottverlassenen und technisierten Welt nur noch als rasende Sinnlosigkeit zelebriert werden, um die verlorene Transzendenz in einer irgendwie gerechtfertigten Folter und einem alles überrennendem Terror wiederzuerlangen. Das ist die eigentliche Perversion und die klaffende Wunde unserer Gesellschaft, in die Martyrs sticht. Kein Wunder, dass staatliche Organe damit ihre Probleme haben.
Die FSK-18-Schnittfassung beraubt den mündigen Zuschauer übrigens genau dieser Zusammenhänge und hinterlässt meiner Meinung nach etwas völlig Unverständliches jenseits der radikal-humanistischen Aussage des Regisseurs. Jeanne d'Arc kann zum Beispiel ja durchaus als weiblicher Jesus verstanden werden, weshalb das Ziehen der Nieten aus Sarahs eiserner Maske wiederum in ikonischer Ähnlichkeit zu Jeannes stilisierter Dornenkrone steht. Die Zensurkürzung des Haareschneidens findet - wie schon erwähnt - ebenfalls ihre Parallele in Dreyers Film und zeigt mitunter nicht nur die Entfemininisierung mit der die historische Jeanne konfrontiert wurde, sondern vor allem die Entmenschlichung des Opfers, das für die Folterknechte zum reinen Objekt verkommt. Übrigens sind die Folterknechte bei Dreyer auch ziemlich üble Gesellen.
Diese Zusammenhänge, welche den Menschen auf seiner grundlegenden Ebene völlig entmündigen, wurden alle in der Schnittversion verkürzt (wie das "Füttern" oder das "Waschen"). Am Schlimmsten ist aber der Eingriff der Zensoren in Hinblick auf Annas Häutung, was man ja eigentlich in der Schnittfassung am liebsten verschweigen würde. Wieder wird der Vergleich der realen Methoden der Folter geleugnet, wie die Einspannapparatur, die nicht von ungefähr an ein mittelalterliches Folterrad erinnert, was es bei Dreyer übrigens ebenfalls gibt. Als Anna schließlich in ihrer kreatürlichen Erscheinung als Kunstwerk des Foltermeisters präsentiert wird, gibt es sicher eine passende Verbindung zur übernatürlichen Horror-Welt eines Clive Barker und den Zenobiten aus Hellraiser, die man noch weiter anschauen könnte. Die filmisch zerstörerischste Kürzung findet aber in der Beschneidung von Annas Gesicht mit ihrem jenseitigen Blick statt, der als direkte Referenz auf Die Passion der Jungfrau von Orléans verstanden werden muss.
Neben all dem wird des Öfteren noch erwähnt, dass Laugier in Martyrs auf den Schriftsteller Georges Bataille und seine Erzählung Die Geschichte des Auges Bezug nimmt, in der es um reale Traumata aus dessen Kindheit geht, über die man aber nur mutmaßen kann. Ich persönlich kenne mich mit Bataille nicht aus, vermute aber, dass man sich wohl tatsächlich in diese Materie versenken kann. In Batailles Die Tränen des Eros wird außerdem noch die Lingchi-Folter gezeigt, die in Martyrs im unterirdischen Gang mit den Fotos neben anderen historischen Verbrechen auftaucht.
Auch Verbindungen zum Theatermacher Antonin Artaud, der für sein "Theater der Grausamkeit" bekannt wurde, sollen in Martyrs enthalten sein. Interessante Parallele ist hier jedenfalls, dass Artaud in Die Passion der Jungfrau von Orléans als Jean Massieu mitspielt, der einer ihrer wenigen "Verteidiger" ist.
Im Stummfilm sagt Jeanne auf die Frage von Massieu, was ihr "Sieg" sei, dass dieser ihr "Martyrium" wäre. Auf die Nachfrage nach ihrer "Befreiung" sagt Jeanne:
"Der Tod."
Um es auf den Punkt zu bringen, Martyrs ist eine schmerzende Film-Qual, die noch lange in den tiefen Winkeln unserer Seele brennt und die Synapsen weiter durchtrennt, wenn die Bilder längst in unseren Augen erloschen sind.
Amen.
10/10