ACHTUNG: das ist kein herkömmlicher Horrorfilm und kann für viele Genrefreunde sicher ein enttäuschendes Seherlebnis werden. Allerdings ist dies aus meiner Sicht ein Film, der zu den besten der nächsten Jahre gehören wird und in Uni-Freizeiten und ökumenischen Kirchen-Seminaren bis zum unheiligen Tode überinterpretiert wird. Auch wissen sollte man, dass die Sprache bewusst starr gehalten ist und eine Arthousefilm-Kunstsprache geboten wird, die zwar im englischen Original für mich besser rüberkommt, aber nichts daran ändert, dass die deutsche Synchronisation ziemlich gut umgesetzt ist.
Aber zum Film. Schon allein dieser Titel: die Tötung eines heiligen Hirschs oder auch Rehs. Ich meine, was soll das? Was ist ein heiliges Wild?
Geht es um den heiligen Hubertus, Schutzpatron der Jäger, der beim halluzinatorischen Anblick eines Kreuzes das Gewehr gesenkt hat und den prächtigen Zwölfender oder 32-Ender verschont hat, weil es für ihn ein Geschöpf Gottes oder gar Gott selbst war?
Ehrlich? Ich weiß es nicht. In The Killing of a Sacred Deer geht es um all das und auch wieder um viel weniger. Der Regisseur Yorgos Lanthimos ist schon ein Schelm und bringt das griechische Kino enorm auf Trab, was seine internationale Aufmerksamkeit betrifft. Als ähnlich verrückter Grieche fällt mir da höchstens noch Nikos Nikolaidis mit Singapore Sling ein, der die Grenzen des Geschmacks der herkömmlichen Filmzuschauer wohl sprengt. Mit seinem Hauptdrehbuchautor Efthymis Filippou hat Lanthimos bisher einige gute Kritik für die Filme Dogtooth, Alpis und den ebenfalls mit Collin Farrell gedrehten Dystopie-Liebesfilm The Lobster bekommen. Mit The Killing of a Sacred Deer schießt er aber wirklich den Vogel ab (oder das Reh, ist ja auch egal).
Schauspielerisch kann sich Lanthimos echt nicht beschweren. Internationale Top-Akteure wie Farrell oder Nicole Kidman in solche Arthouse-Kopfverrenkungen zu kriegen, ist für viele Regisseure wohl nicht umsetzbar. Auch Barry Keoghan (Dunkirk) und die gute Alicia Silverstone (Clueless) sind hervorragend gewählt, sowie die Jungschauspieler Sunny Suljic und Raffey Cassidy. Bill Camp sehe ich in letzter Zeit eh gerne und zum Glück häufiger (Red Sparrow, Black Mass, The Night of, Molly's Game).
Die Handlung ist schnell erzählt und wird vom Verleih konzentriert darauf, dass der junge Martin sich mit dem Kardiologen Steven anfreundet und ihn mit seiner Mutter verkuppeln möchte. Aus meiner Sicht ist das zwar ein Teil der Handlung, aber nicht handlungstragend. Vielmehr geht es aus meiner Sicht in einem sehr einfachen Gerüst um einen Rachethriller mit einem leichten Folterfilm am Ende, allerdings ganz anders gemacht, als man sich das zunächst vorstellt. Man könnte auch von einem Stalker-Film sprechen, der sich ein bisschen mit Home-Invasion kreuzt. Aber das ist ebenfalls nicht ganz richtig. All diese Genreversatzstücke werden eher symbolisch verwendet und kommen am Ende im Kern zu einem Opfer-Plot, in dem es um die Tötung eines geliebten Menschen geht.
Mehr verrate ich jetzt nicht, da solche Geschichten schon in der Bibel sehr beliebt waren und Colin Farrell erinnert mit seinem Hipster-Bart und grimmigem Blick nicht umsonst an einen strafenden und zornigen Moses oder an einen biblischen Abraham, der von Gott persönlich auch schon zu einem belastenden Opfer aufgefordert wurde.
Ein wichtiges Thema des Films ist das Herz, mit dessen expliziter und offener Operation der Film beginnt. Denn Steven ist Kardiologe, also Herzchirurg. Die klassische Musikuntermalung steuert dem biblischen Kontext noch Franz Schuberts Stabat Mater "Jesus Christus schwebt am Kreuzel" bei, sodass man natürlich sofort an das für Liebe stehende "Herz Jesu" denken muss, das hier etwas unschön und recht klinisch gezeigt wird.
Mit solchen Symbolen spielen Lanthimos und Filippou wie ein paar Jongleure. Denn zum normalen filmischen Symbolrepertoire passend (man denke an Ein andalusischer Hund) ist Stevens Frau Anna eine Ophtalmologin, also eine Augenärztin. Auch das Geschenk, das Steven Martin zu Beginn macht, ist symbolträchtig eingesetzt, wenn es um ein Metallarmband in Bevorzugung eines Lederarmbands für eine Uhr geht, von dem man letzteres schließlich aus Tierhaut macht.
Ehrlich gesagt sind die Interpretationsmöglichkeiten so mannigfach, dass man es auf keine Tierhaut bekommt. Deshalb möchte ich nur ein paar Stichpunkte liefern, die ich als "Fragebogen" formuliert habe und die einerseits nichts verraten, andererseits aber eine kleine Handreichung bereitstellen sollen:
1. Machen lange Haare einen Jungen weiblich und muss er sich für den Beruf seines Vaters oder seiner Mutter entscheiden?
2. Macht Sex unter Vollnarkose Spaß oder hat das eher mit einer "Verzückung" durch den Heiligen Geist zu tun?
3. Ist die kleinbürgerliche Familie mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter ein Paradies, in dem man lediglich die Pflanzen gießen muss und den Hund Gassi führen?
4. Sind umgedrehte Arztwitze lustiger, wenn der Arzt es nicht überlebt, aber der Patient?
5. Ist es gut für meine Entwicklung, wenn meine Mutter meine beste Freundin ist?
6. Was verdammt nochmal hat Pasolinis Teorema - Geometrie der Liebe mit diesem Film zu tun?
7. Kann Nichtrauchen auch tödlich sein und macht das Leben ohne Alkohol überhaupt Sinn?
8. Muss ich so viele Achselhaare haben wie mein Vater und beeinflusst das meine Art Spagetti zu essen?
9. Wenn mir zwei kämpfende Hunde Angst machen, habe ich dann gleich ein Aggressionsproblem?
10. Was verdammt hat Und täglich grüßt das Murmeltier in diesem Film verloren, wenn sich Bill Murrays Charakter wieder mal für Gott hält?
11. Was soll ich tun, wenn mein rationales Weltbild zusammenstürzt und auf einmal irgendwelche psychosomatischen Probleme ins Feld rücken, die man nicht greifen kann?
12. Muss man immer ein Opfer bringen, um einen unbekannten Gott zu befriedigen?
13. Ist das Herz nur ein Muskel oder der Sitz der Liebe?
14. Hat der Mensch von heute kein spirituelles Dach mehr über seinem von Göttern verlassenen Kopf?
Man beantworte die Fragen bitte auf einem separaten Blatt, lege ein frankiertes Rückkuvert bei und kontaktiere mich zur Auswertung. Ich liefere dann das dementsprechende Störungsbild anhand der international gültigen ICD-10-Verschlüsselung (in Ausnahmefällen auch DSM-IV).
Letztes Jahr hatte ich den Film Film, basierend auf Samuel Beckett, besprochen, der mit Warten auf Godot diese Lage der verlorenen Spiritualität beispielhaft ausgedrückt hat. Lanthimos lässt Godot zurückkommen, oder zumindest seinen Stellvertreter Martin, der die Dinge wieder ins Lot bringt. Martin ist eine Heilsfigur und vielleicht die heilige Hirschkuh selbst. Allein, ich finde, dass Lanthimos echt gerissen ist, weil er gekonnt Fährten legt, denen am Ende vielleicht selbst das filmische Herzblut fehlt, nur um darauf hinzuweisen, dass das Herz nicht im Film liegen kann und doch wiederum nur in ihm. Man muss das nämlich nicht alles glauben. Lanthimos ist nämlich ein herrlicher Blender, der die Symbolik so weit verschlüsselt, dass ihr selbst der Schlüssel fehlt.
Ich könnte ewig so weiter machen. In The Killing of a Sacred Deer gibt es keine logisch motivierten Handlungen der recht flachen Figuren und trotzdem haben sie eine größere Tiefe als vieles andere. Es geht um die Schuldfrage nicht nur von Anästhesisten und Chirurgen, sondern um abgewehrte Gefühle, von denen sich höchstens noch die Wut zeigt, die in einer hypermodernen und klinischen Geschwindigkeits-Gesellschaft übrig bleibt.
Dieser Film ist, um mit den Worten von Martin zu sprechen, ein "Beispiel", eine "Metapher" und dieses "Beispiel" ist "metaphorisch" und "symbolisch" zu verstehen. Das heilige Reh oder der heilige Hirsch sind vielleicht Abbilder von etwas in den Figuren selbst. Vielleicht ist es die Ausweglosigkeit des Schicksals, der Weg Gottes oder doch die Suche nach Liebe und danach, wie man mit sich selbst umgeht und mit seiner Familie und seinen Mitmenschen.
Eine gewisse lose Referenz am Ende zu Michael Hanekes Funny Games stellt die Frage nach diesem Schicksal und dem freien Willen in einem russischen Roulette noch einmal völlig auf den Kopf. Es bringt alles nichts, manchmal wird man auch in unserer naturwissenschaftlich erschlossenen Welt von einem Racheengel heimgesucht, der einen mit seinen inneren Dämonen konfrontiert.
Ihr seht schon, Lanthimos schießt wirklich den Vogel der Interpretationtsmöglichkeiten ab. Das Thema des Inzesttabus kann man ebenso reinlegen, wie den Sündenfall. Und der Mythos um Iphigenie ist ebenfalls enthalten, bei dem Agamemnon eine heilige Hirschkuh tötet, weshalb Jagdgöttin Artemis stinksauer wird und als Vergeltung seine Tochter Iphigenie als Opfer möchte. Zum Glück muss Stevens Tochter Kim hierüber nur ein Referat in der Schule halten. Am Ende musste ich übrigens an den Schluss von Die Sopranos denken, wo es so eine metaphorische Kommunion in einem Diner gibt und der Symbolgehalt von Pommes Frites und Limonade auf den Prüfstand gestellt wird.
Der Soundtrack mit Songs von Ellie Goulding, Johann Sebastian Bach ("Herr, unser Herrscher" aus der Johannes-Passion), Györgi Ligeti und die Interpretationen des finnischen Akkordeonisten Janne Rättyä sind neben einigem anderen herausragend und machen für mich als eigentlichem Score-Freund, die modern-klassische Filmmusik genauso zeitlos-unzeitgemäß wie bei 2001, Shining oder Der Exorzist.
Hört sich irgendwie alles ziemlich verrückt an, ist aber extrem geil und für mich einer der interessantesten Filme, die ich seit längerem gesehen habe, da er meine Seh- und Erzählgewohnheiten über den Haufen geworfen hat.
Jeder, der offen ist für den etwas anderen Film, sollte sich diese oberflächlich gesehene Geschichte eines desillusionierten Herzchirurgen ansehen, der als trockener Alkoholiker von einem jugendlichen Rächer aufgesucht wird, der ihn für den Tod seines Vaters verantwortlich macht und zur Rechenschaft zieht.
Und immer dran denken, der Film bietet keine Unterhaltung, sondern vor allem anstrengende Symbolik.
"Im Bus sind 20 Herzen und 20 Ärsche..."
10/10