Piercing
Liebesfilm, anders gedacht.
Da haben sich offensichtlich zwei Verrückte gefunden: Romanautor Ryu Murakami und Jungregisseur Nicolas Pesce. Murakami ist auch in der Filmwelt längst kein Unbekannter mehr, lieferte er doch die Vorlage für Takashi Miikes Kulfilm Audition von 1999. Und Pesce konnte sich 2016 auf sämtlichen Filmfestivals einen Namen mit seinem kunstvoll verstörenden Horror-Drama The Eyes of my Mother machen, einem Film der völlig zurecht hohes Ansehen in der Szene genießt. Es war abzusehen, dass auf kurz oder lang etwas nachkommen würde und so stand 2018 das Filmprojekt Piercing in den Startlöchern. Nicht nur ist dieses die erste US-Adaption eines Murakami-Romans, zudem differenziert sich Pesce sichtbar von seinem unerbittlichen Debüt, jedoch ohne seine Vision von paradoxem Erzählkino den Wünschen des guten Massengeschmacks unterzuorden. Strategisch unangepasst, wenn man so will.
Vater sein ist bekanntlich nicht leicht. Für Reed (Christopher Abbott) bestimmt nicht, der eines Nachts an der Wiege seines Kindes steht und sich selbst kaum davon abhalten kann, das hilflose Baby zu erwürgen. Für den Drang zu Töten muss schleunigst eine Lösung her, also lässt Reed seine Frau Mona (Laia Costa) und das Kind alleine und begibt sich auf eine vermeintliche Geschäftsreise in eine nicht näher benannte Großstadt. Nachdem im Hotel eingecheckt wurde, will Reed seinen akribisch durchdachten Plan eine Prostituierte zu ermorden in die Tat umsetzen. Gesagt getan, und ein paar Stunden später steht die hübsche nichtsahnende Jackie (Mia Wasikowska) vor der Tür. Nach etwas unbeholfenem Smalltalk über Fesselspiele, wird Reed langsam bewusst, dass die junge Frau selbst einen ziemlichen Sprung in der Schüssel hat und zwischen den beiden entspinnt sich ein perfides Katz-und-Maus-Spiel. Wessen Blut sollte hier gleich noch fließen?
Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich noch anmerken Murakamis Roman selbst nicht gelesen zu haben. Zwar bin ich mit seinem Werk nicht ganz unvertraut, kenne beispielsweise Das Casting und Coin Locker Babies, und weiß dass er in seinen Geschichten oftmals Kritik an der japanischen Arbeitsgesellschaft übt und Globalisierungsängste thematisiert. Ob und und inwiefern sich diese Elemente in Piercing widerspiegeln kann ich daher nicht beurteilen, in meiner Besprechung wird es also rein um den Film als solchen gehen.
Wie schon The Eyes of my Mother profitiert auch Piercing von seinem minimalistischen Schauplatz (hier das Hotelzimmer) und dem starken Zusammenspiel der Figuren. Davon gibt es mit Reed und Jackie eigentlich nur zwei, über deren persönliche Geschichten relativ wenig weiß, woraus der Film sofort einen gefälligen Nutzen zieht und innerhalb der 81 Minuten Laufzeit immer wieder ein paar Hintergrundinformationen in den Raum wirft, was auf lange Sicht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erfordert um auch wirklich alles mitzubekommen. Während man hinter Christopher Abbots (It comes at Night) naiver Dackelblick-Fassade im echten Leben wohl nie einen Psychopathen vermuten würde, gerät Mia Wasikowskas (Alice im Wunderland, Crimson Peak) Darbietung bemerkenswert wandelbar, ohne dass ich dahingehend zuviel vorweg nehmen möchte. Nur die großartige Laia Costa (Victoria) gerät schmerzhaft zweitrangig und ist über wenige Ausnahmen nur als moralische Unterstützung am Telefon zu hören.
Wenn die Kamera gerade mal aus einem der Zimmerfenster schwenkt, dann erstrahlen modellierte Wolkenkratzer in knalligem Technicolor. Pesce arbeitet in seinem Folgewerk ausschließlich mit Bühnen, nachgebauten Kulissen und einer intensivierten Beleuchtung, wodurch er die optische Wirkung eines alten Farbfilms erreicht, außerdem ist der Inszenierung ein theaterhafter Einfluss nicht abzusprechen. Dies erscheint dem Kenner umso kontrastreicher, war The Eyes of my Mother doch ein Schwarzweißfilm, praktisch die Albtraum-Fassung eines Film noir. Seinem in hier ausgelebten Siebziger-Jahre-Stil bleibt der Regisseur jedenfalls treu ergeben und es kommt sogar noch besser. Denn wenn der Soundtrack zum Argento-Klassiker Tenebre ertönt, reift in Piercing ganz unerwartet eine Retro-Giallo-Atmosphäre allererster Güte. Die gelbe Inneneinrichtung des Apartments ist also nicht nur Mittel zum Zweck und auch die auffällig gelbe Blu-ray-Hülle ist scheinbar keine skurrile Laune des deutschen Filmverleihs Busch Media Group. Neben dem Profondo Rosso-Score ertönt irgendwann auch noch die Titelmusik zum Poliziottesco-Reißer Der unerbittliche Vollstrecker als auch des Riesenkalmar-Horrorfilms Der Polyp - Die Bestie mit den Todesarmen, was zumindest für Genre-Insider die so etwas überhaupt bemerken, befremdlich wirken mag. Aber toll sind diese Musikstücke ja trotzdem.
Trotz seiner unterschwellig mordlüsternen Italo-Ästhetik, beabsichtigt es Piercing zu keiner Zeit ein Giallo zu sein. Denn hinter unausweichlichem Blutvergießen und sonstigen perfiden Gewaltspitzen schwebt Pesce das Konzept einer romantischen Komödie vor, eine Tatsache mit der man sich als Zuschauer erst einmal anfreunden, und noch viel wichtiger, derer man sich überhaupt erst bewusst sein muss. Aus diesem sperrig betrachteten Blickwinkel gerät Piercing aufs neue doppelbödig, präsentiert eine zeitlich limitierte Maria Dizzia (Orange is the New Black) in schwarzem Latex und konfrontiert Abbots Reed mit weiterem filmischem Fetisch-Kram, der in gewisser Weise eine ähnliche Wirkung wie David Cronenbergs Autoporno Crash erzielen möchte, aber tatsächlich sehr sparsam mit der Zurschaustellung von Sex umgeht. Ein verkopfter 50 Shades of Grey also, der SM und Machtspiele deutlich realistischer darstellt als es das prüde Hollywood jemals vermochte.
Bis hierhin wirklich spannend anzusehen und gerade auf der Meta-Ebene fesselnd, übertreibt man es zum Schluss ein wenig und lässt den Film in surrealen Effekte-Wahnsinn abdriften. Trotz überbemühter Erklärungen bleiben (gewollte?) Fragezeichen stehen. Diese werden wiederum mit solch bösartigem Wortwitz verfeinert und von einem absolut genialen Ende gekürt, sodass man selbst über die allegorische Interpretation dieses ''Liebesfilms'' eigentlich nur noch lachen oder weinen kann. Also mein lieber Herr Pesce, spätestens jetzt hast du, in mir, einen Fan mehr gefunden. Dein Piercing hat vielleicht keine Eihi Shiina mit einem Drahtseil, dafür aber Mia Wasikowska und einen Dosenöffner. Aua.
''Was, wenn sie sich wehrt? Wenn sie mich verletzt? Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht.''
Fazit: Wer bei Piercing einen reinen Killer-Thriller erwartet dürfte schwer enttäuscht werden, denn Nicolas Pesces zweiter Spielfilm erzählt vielmehr eine entartete Liebesgeschichte, irgendwo zwischen SM-Kammerspiel und Giallo-Tribut. Trotz einem gänzlich anderen Konzept, bewegt sich das wie schon in The Eyes of my Mother stilistisch auf allerhöhchstem Niveau und Freunde von abgefahrenem Arthouse-Genrekino sollten diesen Geheimtipp nicht missen.
8/10