Dort, wo kein Tod mehr ist, sehen wir uns wieder.
Die 1988 gedrehte und im November 1989 erschienene Schauermär „Laurin“ ist der erste und bislang einzige Kinofilm des deutschen Regisseurs Robert Sigl. Drehte Sigl zuvor zwei Kurzfilme („Die Hütte“, „Der Weihnachtsbaum“), war er nach „Laurin“ ausschließlich für das Fernsehen tätig und inszenierte unter anderem die Horrorfilme „Schrei, denn ich werde dich töten“ (1999) und „Hepzibah“ (2010), die Sci-Fi-Miniserie „Stella Stellaris“, diverse Folgen für den „Tatort“, für „SOKO“, „Lexx: The Dark Zone“, „Geisterjäger John Sinclair“ sowie Einspieler für „Aktenzeichen XY… ungelöst!“. Nach dem Abschluss an der Filmhochschule in München im Jahr 1987 machte er sich an die Realisation eines eigenen Drehbuchs mit dem Titel „Laurin“. Hierfür gelang es ihm, das Budget von etwas über einer Million DM aufzubringen, was für einen Dreh in Ungarn reichte, wo es laut dem Filmemacher Orte gab, an denen die Crew nicht mal etwas ändern musste, da es dort immer noch wie vor hundert Jahren aussah.
Zur Story: Im Jahre 1901 verschwinden aus einer kleinen norddeutschen Stadt am Meer Jungen. Die sensible Laurin (gespielt von Dóra Szinetár) leidet an Vorahnungen und Visionen. Nachdem ihre Mutter bei einem mysteriösen Unfall stirbt und ihr bester Freund Stefan vermisst wird, beschließt das Mädchen, den Vorfällen auf den Grund zu gehen…
Es ist schon bemerkenswert, was hier ein Mittzwanziger mit Energie, Selbstinitiative und Herzblut auf die Beine gestellt hat. In den ungarischen Orten Hollókő und Szentendre mit einheimischen Schauspielern realisiert, ist Sigls Werk ein gelungenes Beispiel für einen deutschen Genrevertreter (in ungarischer Koproduktion). Dabei ist er aufgrund seiner seltsamen Stimmung beinahe schon als einzigartig zu bezeichnen. Andererseits blitzen bei mir hin und wieder Erinnerungen an Arbeiten anderer europäischer Regisseure wie Dario Argento (zu „Inferno“- und „Phenomena“-Zeiten), Jess Franco (hier vor allem wegen seinem ‘76er „Jack the Ripper“), Lucio Fulci („Don’t Torture a Duckling“), Jean Rollin oder, in der Tat, Werner Herzog („Nosferatu“) auf. Zu Sigls Einflüssen gehörten Roman Polanski, Stanley Kubrick, Jacques Tourneur und Alfred Hitchcock. Gleichfalls inspiriert war er von Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter". Interessant ist dabei das Nebeneinander von eher spröde anmutenden Sequenzen, nüchtern gefilmt, mit einer fast schon sterilen Atmosphäre wie man sie von Kubrick kennt, Gothic-Horror sowie rauschhaften Primärfarben-Kadenzen im Stile eines Mario Bava, die letztendlich eine illustre Symbiose eingehen. Assoziationen zu anderen Filmarbeiten - von Michael Hanekes zwanzig Jahre später entstandenem „Das weiße Band“, hinsichtlich der ländlich-patriarchalen Dorfhierarchie im frühen 20. Jahrhundert mit dem Pfarrer als autoritärer Respektsperson, über Peter Weirs „Picknick am Valentinstag“ (1975) mit seiner außerweltlichen Aura, zum 1970 entstandenen „Valerie“ von Jaromil Jireš sowie zu Neil Jordans „Die Zeit der Wölfe“ (1984), was die Vermischung des Coming-of-Age-Elements mit dunkel-fantasievollen Märchen-, Grusel- und Horrormotiven angeht (nur eben in „Laurin“ weniger barock und verschnörkelt inszeniert) - kommen ebenso immer mal wieder auf. Also, bitterer Realismus, gepaart mit schwarzromantischer Imagination.
Die exquisite Kameraarbeit von Nyika Jancsó ist dementsprechend einerseits roh, nicht wirklich monochrom, aber teils mit entsättigten Farben, andererseits elegant verspielt und extrem bunt, was in einer bizarren Atmosphäre mündet, die durch den so minimalistischen wie suggestiven Score von Hans Jansen und Jacques Zwart noch unterstützt wird. Hinzu kommt eine gewisse Dialogarmut, denn „Laurin“ ist alles andere als geschwätzig. Sigl treibt die Handlung nämlich durch die Bilder der Kamera und das Tun der Protagonisten voran und nicht unbedingt durch Gesprochenes. Dies führt zu einer gewissen Sperrigkeit, entfaltet jedoch nebenbei auch einen hypnotischen Sog. Die Story ist einfach gehalten und schreitet nur sehr ruhig und langsam weiter. In der ersten Hälfte des Streifens fragt man sich als geneigter Zuschauer durchaus des Öfteren, wo die Reise denn hingehen mag. Und überhaupt ist „sperrig“ ein Wort, das ziemlich gut zu „Laurin“ passt, denn neben der Gemächlichkeit werden so einige schwierige bis schwere Themen in die recht kurze Laufzeit von 80 Minuten gepackt: die Verlustängste eines Mädchens, verquirlt mit der ohnehin finsteren Lebensrealität der Durchschnittsbevölkerung im Deutschen Reich Anfang des letzten Jahrhunderts, Kirchenkritik, Kindermorde, Kindesmisshandlung, psychosexuelle Störungen und die schwierige Beziehung zwischen dem frisch gebackenen Dorflehrer van Rees mit seinem Vater, dem autoritären protestantischen Dorfpfarrer.
Auch die Schauspielleistungen bzw. die Schauspielerführung des Regisseurs kann ich persönlich nur als schwer zugänglich bezeichnen. Es wird alles recht unterkühlt dargeboten, wobei dies aller Wahrscheinlichkeit nach einem gewissen Realismus im Hinblick auf die damalige Zeit geschuldet ist. Gefühle werden soweit wie möglich unterdrückt. Sieht man sich Bilder oder (Familien-)Porträts der vorletzten Jahrhundertwende an, wird man kaum ein Lächeln geschweige denn ein Lachen erblicken können. Diese Steifheit, dieses Hölzerne bringen die Darsteller jedenfalls gut zur Geltung. Und nein, dies heißt eben nicht, sie seien schlecht; eine gewisse Nuanciertheit unter der zur Schau gestellten Maske der Emotionslosigkeit ist immer wieder auszumachen. Gerade die Besetzung der Titelrolle mit der damals etwa elfjährigen Dóra Szinetár sehe ich als Glücksfall. Sie lässt den Zuschauer hervorragend an der Unsicherheit ihrer Figur teilhaben, trägt dabei stets einen ihr ganz eigenen melancholischen Gesichtsausdruck und hat generell ein ätherisches Wesen. Aus dem Gedächtnis streichen lässt sich die junge Schauspielerin nur sehr schwer. Das gilt im Übrigen auch für die Darsteller, die ihre markanten Gesichter dem Dorflehrer Van Rees und dem Pastor Van Rees leihen: Károly Eperjes und Endre Kátay. Ersterer ist ein in Ungarn sehr bekannter Schauspieler, der beispielsweise an der Seite von Klaus Maria Brandauer in den beiden István-Szabó-Werken „Oberst Redl“ (1985) und „Hanussen“ (1988) mitwirkte; Letzterer ein Theaterveteran. Zu beiden Charakteren wahrt der Zuschauer aufgrund ihrer Kälte Distanz. Eine sympathische Note bringen die, mysteriöse Kräuter rauchende, Großmutter von Laurin, gespielt von Hédi Temessy (ihrerseits eine damals in Ungarn ebenfalls bekannte Film-, TV- und Theaterdarstellerin), sowie Laurins kränklicher Freund Stefan (Barnabás Tóth) ins Gesamtbild.
Zusammen mit der für ein solch niedriges Budget exzellenten Ausstattung ist „Laurin“ alles in allem ein geglücktes Ganzes, für das Robert Sigl 1988 den Bayerischen Filmpreis als Nachwuchsregisseur erhielt. Ansonsten blies dem Filmemacher ein starker Wind ins Gesicht. Für den Bundesfilmpreis wurde „Laurin“ abgelehnt, da Sigl nicht in Deutschland gedreht hatte und weil es im Film zu viele `byzantinische Gesichter` gäbe (heutzutage wäre bei solch einer Formulierung wahrscheinlich ein gewaltiger Shitstorm vorprogrammiert). Interessanterweise wurde „Laurin“ auch von einigen Kinobetreibern und Festivalleitern abgewiesen, da dies ein `blutrünstiges Machwerk für ein Nischenpublikum‘ sei; Sigl solle seine Arbeit der Öffentlichkeit doch lieber vorenthalten, er würde sich damit nur seine mögliche Zukunft als Regisseur verbauen. Deshalb fiel „Laurin“ zunächst besonders in Deutschland der Vergessenheit anheim und wurde in den 2000ern nur zwei- oder dreimal nachts auf VOX versendet (wo ich ihn entdeckte), um dann vor einigen Jahren zum Glück doch noch auf DVD und Blu-ray (von Bildstörung) zu erscheinen. Der Prophet gilt halt nichts im eigenen Land.
Fazit: "Laurin - A Journey Into Death"! Hätte Astrid Lindgren je einen Horrorroman verfasst, sähe dessen Adaption vermutlich so aus wie „Laurin“. Bava, Herzog, Argento, Polanski, Rollin, Haneke, Fulci, Jireš, Franco, Tarkowski – viele verwirrende Assoziationen und Paralellen leuchten da in meinem Kopf auf. Insgesamt ist dies ein großartiger Genrefilm aus Deutschland, mit ungarischen Schauspielern auf Englisch in Ungarn gedreht. Die Landschaft hat zur Folge, dass man sich eben nicht am Handlungsort der norddeutschen Tiefebene wähnt. Das verstärkt allerdings noch das surreale Element, welches „Laurin“ partiell innewohnt. Doch, Achtung! Für Splatterfreaks und Bluthunde ist dieser Film absolut nichts. Blut ist kaum vorhanden, Sleaze gar nicht, sondern nur eine gespenstische, beklemmende Aura, die zwischen finsterem, ruralem Realismus, schauerromantischem Gothic-Grusel mit Nebel, Spinnweben und verfallenen Friedhöfen, gialloesken Farbspielereien, sporadisch auftauchenden, experimentellen Arthouse-Bestandteilen sowie Expressionismus, Symbolismus und Surrealismus schwebt. Ein faszinierend morbides, mystisch-poetisches Märchen, gemächlich und unaufgeregt erzählt. Über die eitle Arroganz der selbsternannten Kulturelite Deutschlands sowie der deutschen Filmförderung werde ich hier und jetzt kein Wort verlieren, aber ich wünschte mir wirklich, Herr Sigl würde nochmals einen Film dieses Kalibers drehen können. 8 Punkte.
8/10