Von diesem Film zu sagen, er wäre außergewöhnlich, ist noch eine Untertreibung. Der iranisch-dänische Filmemacher Ali Abbasi (Shelley) hat mit Gräns, wie er im schwedischen Original heißt, ein Stück Phantastisches Kino geschaffen, wie ich es in der Form noch nie gesehen habe.
Mein Konflikt ist leider, dass ich von der Story eigentlich nichts verraten möchte, da man sich dieser märchenhaften Realität ganz unbedarft nähern sollte, ganz so, als erwarte man ein Kind, von dem man nicht erwartet hätte, dass es einen mit seiner Existenz überrascht.
Um mal die Rahmenbedingungen kurz abzuklären, wird in Border die Geschichte von Tina erzählt, die mit einem - wie ihr gesagt wurde - Chromosomdefekt zur Welt gekommen ist und nicht wie das Gros der Allgemeinheit aussieht, allerdings besondere Fähigkeiten bezüglich ihres Spür- und Geruchssinns entwickelt hat, mit dem sie sowohl Düfte, als auch menschliche Gefühle erkennen kann. Mit solchen Superkräften ausgestattet, landet man naturgemäß beim schwedischen Zoll, wo sie mit ihren Kollegen Alkoholschmuggler und sonstige Verbrecher an der Grenze von Dänemark und Schweden überführt. Als ein Mann mit kinderpornographischen Dateien von ihr gestellt werden kann, beginnt für sie sowohl die Beihilfe zur Aufklärung von Kinderschändern, als auch eine weitere Begegnung mit dem mysteriösen Vore, der so viel mit ihr gemeinsam zu haben scheint und doch so völlig anders ist. Er führt sie ein in eine Welt jenseits ihrer Grenzen, die sowohl sie, als auch der Zuschauer so noch nicht gesehen hat und es beginnt eine der seltsamsten Liebes-Verbrecher-Romanzen auf der Suche nach Identität und Integrität, die es je gab.
Border basiert auf der Kurzgeschichte Gräns des schwedischen Horrorautors John Ajvide Lindqvist, den manche vielleicht vom Vampir-Arthouse-Drama Let the Right One In von Thomas Alfredson oder seinem US-amerikanischen Remake kennen. Am Drehbuch wirkte neben Abbasi auch Lindqvist selbst und Isabella Eklöf mit, deren Regiedebut Holiday - wie bereits erörtert - ebenfalls sehr spannend ist. Ähnlich kreativ und stimmungsvoll webt die Filmversion von Border Lindqvists Vision in einen ruhigen Nordic-Noir mit Fantasyelementen ein, die auf den ersten Blick zunächst eigentlich gar nicht so phantastisch scheinen.
Dies liegt mitunter an der unglaublich überzeugenden Maske der Hauptdarsteller, die man gar nicht wiedererkennt. Die schwedische Schauspielerin Eva Melander, die bisher eher für Fernsehrollen in ihrem Heimatland bekannt zu sein scheint, bringt eine herausragende Leistung, von der sich jede Hollywood-Beauty ein eigenes Bild machen sollte. Ebenso wie der Finne Eero Milonoff, der eine bereits beachtliche Filmographie vorweisen kann. Ich ziehe meinen Hut vor diesen die Grenzen des Darstellerischen auslotenden Künstlern.
Wie gesagt, ich will nicht mehr verraten, da ich die zunächst etwas zähe und seltsame Stimmung und Atmosphäre dieses Films nicht schmälern möchte und die Gefühle, die einem beim ersten Sehen überkommen, nicht vorweg nehmen oder vor allem verfälschen will.
Eines möchte ich aber sagen, Border behandelt in seinem Kern sowohl den Missbrauch an Kindern, als auch den Missbrauch derer, die anders sind, als die Gesellschaft sie kennt oder haben möchte. Dies sollte man sich gerade beim aktuellen Thema des Trisomie-Tests für Schwangere unbedingt vor Augen führen. In diesem Sinn ist der Film einerseits ein Aufruf für mehr Inklusion und Toleranz, zugleich aber verfolgt er die unlösbare Frage dessen, wo natürliche und vom Menschen gemachte Grenzen liegen. Tina, wie ich sie hier noch nennen werde, wird aufgrund gesellschaftlicher Lügen und Verbrechen von ihrer wahren Identität schließlich völlig überflutet, sodass sie fast nicht anders kann, als sich ihrem Verführer hinzugeben, bis auf den einen Unterschied: sie will sich nicht dem Hass hingeben, sie behält das, was sie letztlich wirklich ausmacht: ihre Gefühle.
Gut, genug gesagt, Border ist zwar kein Superheldenfilm, aber Stan Lee hätte solch eine mythische Superheldin aus der skandinavischen Folklore sicher sympathisch gefunden, bei der es am Ende immer um die Liebe und Suche nach dem eigenen Ich in der Gesellschaft geht.
Schönheit liegt eben nicht nur im Auge es Betrachters.
9/10