Christopher Nolan ist wieder da und hat uns 3 Jahre nach Dunkirk den nächsten Film beschert, der uns dieses Mal in das Genre des Philosophical Science Fiction Thrillers führt, der gerade mit seiner Zeitreisethematik für Fans dieses Gedankenspiels interessante Erweiterungen und vor allem Bilder vor die Augen führt.
Um dieses Konstrukt um die Linien der subjektiven und relativen Zeitlichkeit mit einem erzählerischen Inhalt zu füllen, erzählt Nolan die Geschichte eines namenlosen CIA-Agenten, der sich selbst als Protagonist der Handlung versteht. Dieser Agent ist zu Beginn Teil eines Einsatzes in der Ukraine, wo in einem Opernhaus ein terroristischer Anschlag stattfindet, der schließlich damit endet, dass er von den Sowjets, die als Antagonisten fungieren, gefangen wird und sich zum Selbstmord durch eine Kapsel entscheidet.
Doch der Protagonist stirbt nicht, sondern wird in einem Jenseits willkommen geheißen, das bald als weiterer Auftrag für einen besonders loyalen Agenten begriffen werden kann. Hier wird er mit einem in der Zukunft entwickelten System konfrontiert, in dem Objekte zeitlich umgekehrt wahrgenommen und verwendet werden. Eine Pistolenkugel wird nicht abgeschossen, sondern kehrt in die Waffe zurück, sie wird nicht fallengelassen, sondern fängt sich quasi selbst. Der Protagonist stellt schnell fest, dass diese seltsame Realität eher mit Instinkt, denn mit Logik begriffen und gehandhabt werden kann. Er ist nun Teil einer Mission unter dem Codenamen "Tenet", was im Englischen "Grundsatz, Lehre" oder "Theorem" heißt. Aus dem Lateinischen kommend stammt es von "halten, standhalten" oder "aufbewahren" ab.
Weitergehend begibt sich der Agent nun anonym in die Welt der Kunstfälscher, wo ihn ein weiterer Agent namens Neil begleitet, um über Umwege an den russischen Oligarchen und Waffenhändler Andrei Sator heranzukommen, der wiederum über die Zeitreisetechnik der Zukunft zu verfügen scheint und plant, die Welt vollständig zu zerstören. Dass Sator Eheprobleme mit seiner Frau Kat hat, der er den gemeinsamen Sohn Max entfremdet und wegnehmen will, gehört dabei zur Nebenhandlung, die allerdings bald die Haupthandlung bestimmt, da Sator als krebskranker und zutiefst gestörter Psychopath erscheint, dem nichts heilig ist und der mit jedem Mittel aufgehalten werden muss.
Zugegeben, ich habe überhaupt keine Ahnung von Physik und der Zeitreisetheorie, die hier im Film angedeutet wird, doch Nolan inszeniert dieses Gedankenkonstrukt so glaubhaft, dass eingeschworene Physiker sicher interessante Deutungen hierzu beitragen können. Überhaupt kann man sagen, dass Tenet genügend Konstruktion und Schnitzeljagd bietet, um Haus- und Masterarbeiten von Studenten und Studentinnen zu inspirieren, die den Film zukünftig analysieren und dekonsturieren.
Ich von meiner Seite aus schätze ja die Wucht der Bilderfolgen und die psychologische Tiefe sehr, die hier allerdings zunächst eher oberflächlich erscheint, betrachtet man sich den verrückten Oberschurken mit seiner Frau und den Agenten im Dienste der guten Sache. Doch darunter liegt eine nicht zu unterschätzende Tragik, die mich manchmal an die alten Griechen oder Shakespeare erinnert hat. Betrachtet man es so, wird Sator zu einem gefallenen König, der nicht nur seine Familie untergehen sehen will, sondern auch sein Reich und die ganze Welt. Seine Ehefrau Kat wird hier zu einer Iphigenie, die zwar nicht den Tod ihres Bruders betrauert, sondern den drohenden Verlust des Kindes und vielmehr das eigene Schicksal abwenden will und herbeisehnt zugleich, geradezu beschwört.
Vom Filmischen gibt es nichts auszusetzen, die Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema ist wie immer hochauflösend, eindringlich und von einer technischen Raffinesse, die ihresgleichen sucht. Hier werden Hochhäuser bombardiert, die sich in der Zeit invertiert wieder aufbauen, um erneut zum Einsturz gebracht zu werden. Eine rückwärts verlaufende Autoverfolgungsjagd gerät dermaßen atemberaubend, genauso wie die Kampfszenen, dass allein hier schon die Schlagkraft von Nolans Vision umgesetzt wird. Am gelungensten ist aber der Eintritt des Protagonisten in die invertierte Vergangenheit, in der er sich unsicher bewegt und in der uns rückwärtslaufende Bilder von Vögeln und Meereswogen geboten werden, die es so im Kino noch nicht gegeben hat.
Auch die Schauspieler agieren grandios, allen voran Robert Pattinson, der als zunächst etwas abgehalfterter Typ, wirklich immer überzeugender wird, in dem, was er darstellt und wie er es umsetzt. Elizabeth Debicki als Kat war mir bisher unbekannt, spielt die illusionslose Oligarchenfrau aber distinguiert und zur Rolle passend hoffnungslos. Auch John David Washington ist ein absolut passender Protagonist und Anti-James-Bond, der eine Ernsthaftigkeit hat, die den meisten Filmagenten oft fehlt. Für mich ist es nicht zu verstehen, welches Umdenken und sich Hineinversetzen bei den Dreharbeiten mit den rückwärts gespielten Kampfszenen notwendig war und verdient höchsten Respekt. Nicht vergessen werden darf Kenneth Branagh, der als Weltschauspieler von Format den Schurken mit einer Fatalität und Grausamkeit spielt, dass der sprichwörtliche Tiger wirklich spürbar wird, für den sich die Figur hält. Beim nächsten Bond-Film wünsche ich ihn mir definitiv als Bösewicht und frage mich, warum Branagh noch keiner besetzt hat.
Bleibt noch der Soundtrack von Ludwig Göransson zu erwähnen, der mittlerweile zu einer Größe des Geschäfts wird, bedenkt man seine Scores zu Black Panther oder The Mandalorian. Göransson setzt dem bisher gewohnten Sound von Hans Zimmer in Nolans Filmen eine überzeugende und wuchtige Frischzellenkur entgegen und setzt die anders verlaufende Zeit der Erzählung musikalisch grandios in Szene, dass man meint, man lässt seinen Plattenspieler rückwärts laufen. Unbedingt reinhören!
Zeitreisefilme gibt es viele, die man Tenet gegenüberstellen kann. Im Netz habe ich ein witziges Bild gefunden, bei dem Tenet als Mischung aus Hot Tub – Der Whirlpool … ist ’ne verdammte Zeitmaschine! und James Bond verglichen wurde. Mir ist oft die Terminator-Reihe in den Sinn gekommen. Zwar fehlt in Tenet der Kampf gegen die Maschinen, aber die Hirnschleife eines John Connor, der in der Vergangenheit gerettet werden soll, um die Zukunft zu retten, ist hier in gewisser Weise als versteckte Deutung ebenfalls enthalten.
Wie gesagt, Tenet beherbergt wie fast alle Filme von Christopher Nolan ein Deutungsspiel in sich, das sich gewaschen hat. Am ehesten kann man es wohl mit Inception vergleichen. Jeder Hinweis und Name hat eine Bedeutung, die wiederum auf etwas anderes verweist und die Erzählkonstruktion neu beleuchtet und gleichzeitig wieder verwirrt. Andrei Sator verweist zum Beispiel auf das Sator-Quadrat, das als magische Beschwörungsformel verwendet wurde und letzten Endes auf Nolans kreativen Prozess zwischen Schöpfung und Tod verweist:
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Nun gut, aus meiner Sicht ist Tenet ein weiteres Meister- und Rätselstück des US-Engländers Christopher Nolan, der dieses Mal im philosophischen Agententhriller mit Zeitreisethematik ein grandioses Stück Science Fiction abgeliefert hat, das nicht nur visuell überzeugt, sondern wie immer auch inhaltlich, auch wenn dies etwas versteckt erscheint.
10/10