Avantgardistisches Erzählen jenseits.
Julia Ducournaus neuer Film Titane ist eine absolute Wucht, was filmisches Erzählkino angeht, dass ich gar nicht anders kann, als erfürchtig vor dieser Regisseurin niederzuknien und mehr Filme von ihr zu wünschen, was ich bei ihrem Debüt-Film Raw schon ausführlich getan habe. Was sie mit Titane auf die neue Geschichte des Films nun losgelassen hat, ist gelinde gesagt ein Periodensystem der menschlichen Abgründe einer Existenz im Übergang. Hört sich schwierig an? Ist es auch. Allein, was bedeutet der Titel? Titan ist ein sogenanntes Übergangsmetall, was das genau bedeutet, weiß ich nicht, da ich in Chemie eine absolute Null war. Jedenfalls sind die Eigenschaften dieses chemischen Elements, dass es hitzebeständig ist, nicht rostet und extrem dehnbar ist. All das kann definitiv in Motive des Films gelegt werden, wer sich denn eine Analyse wünscht.
Abseits dessen erzählt Titane oberflächlich die Geschichte von Alexia, die als Kind einen Autounfall mit ihrem Vater hatte, in dessen Folge ihr eine Titanplatte in den Kopf implantiert werden musste. Als Erwachsene führt sie ein grenzwertiges Leben zwischen Begierde und extremen psychischen Zuständen. Einerseits ist sie eine Tänzerin auf Autoshows, wo sie einen Pulk männlicher Fans um sich versammeln kann, andererseits ist sie eine brutale Serienmörderin, die auch vor dem Mord an nahestehenden Personen nicht zurückschreckt. Ihre seltsame Vorliebe für Automobile rührt aus ihrer Kindheit, in Verbindung damit eventuell, dass sie durch den Unfall zwar schwer verletzt wurde, aber letztlich doch vom Automobil gerettet wurde. In dieser Folge verwundert es nicht, wenn Alexia Sex im inneren von Autos hat, die sie obendrein noch schwängern.
Harter Tobak, definitiv, und wer jetzt an Crash von David Cronenberg denkt oder auch an Christine von John Carpenter, hat wenigstens ein paar Referenzen, an denen sich festhalten lässt, wenn die Erzählung mehr und mehr irreal wird, surreal, mythisch überhöht und basal konzentriert auf menschliche Ausscheidungen, die hier allerdings in der Form von Motorenöl und mir unbegreiflichem Schaum bestehen.
Als Alexia den Bogen überspannt und eine ganze WG ermordet, muss sie fliehen und versucht die Identität eines vor 17 Jahren verschwundenen Jungen anzunehmen, dessen Vater zwar kurz staunt, als er das burschikose Mädchen mit der gebrochenen Nase sieht, sie aber aus unverarbeiteter Trauer oder eben auch ewigwährender Liebe jenseits des einen Menschen als seinen Sohn annimmt. Vincent ist Feuerwehrkommandant und geht tagsüber mit seiner Jungmännergruppe durchs sprichwörtliche brennende Inferno, gibt sich abends aufgrund seiner Eitelkeit und eventueller Probelmatik mit dem Älterwerden Hormonspritzen, die ihn wieder in Form bringen.
Nun ja, die Erzählung wird immer schwieriger zu begreifen und kann mit herkömmlichen Plotpoints, Heldenreisen oder anderem Brimborium nicht mehr erklärt werden. Themen um Identität, Geschlecht, den Menschen als Maschine, Inzest, Liebe, Hass und Mord sind wohl die Kernpunkte, um die sich Titane dreht.
Titane ist brutal, sowohl in seinen zu Beginn zelebrierten Morden, als auch in seiner den Körper verletztenden Realitätsnähe, bei der man manchmal schlucken muss, oft aber selbst körperlich affiziert wird, wenn sich Alexia die Brüste abklemmt, den schwangeren Bauch, oder auch nur die Brustwarze ihrer Freundin liebkosen will. Der Vergleich zum Body Horror von David Cronenberg ist deshalb wohl nicht weit hergeholt, Titane geht aber darüber hinaus. Denn es ist jenseits der zu Beginn geradzu misogynistischen Darstellung von "Weiblichkeit" die Dekonstruktion des Geschlechts, des Körpers und dessen, was Identität sein könnte. Auch der Übergang vom Menschen zur kybernetischen Maschine ist nur die letzte Konsequenz, die Titane behauptet.
Schauspielerisch muss man im Übrigen ebenfalls nur niederknien vor Agathe Rouselle als Alexia, eine nichtbinäre Fotografin, Journalistin, Autorin und Model, die bei Titane ihr Langfilmdebüt gibt. Es wird gemunkelt, sie möge Roland Barthes und Nick Cave, was ich nur teilen kann. Den Feuerwehrkommandanten Vincent inkorporiert Vincent Lindon, der 2015 als bester Schauspieler in Cannes für den Film Der Wert des Menschen ausgezeichnet wurde und eine lange Filmographie sein eigen nennt. Er war in den 80ern, wie ebenfalls gemunkelt wird, mit der Tochter des französischen Expräsidenten Jacques Chirac (Fuck Chirac!) zusammen, was ich nicht teilen kann.
Die Chemie der beiden Schausieler stimmt bis in jede Faser deren Körper, deren Spiel physisch zuweilen mehr als extrem ist. Absolut herausragend!
Die Filmmusik von Jim Williams bräuchte eigentlich keine besondere Erwähnung, schätze ich ihn doch sehr für die Soundtracks zu Ducournaus Raw, zu Brandon Cronenbergs Possessor oder Ben Wheatleys A Field in England. Bei Titane legt er in Sachen Opulenz und Energie allerdings noch eine Schippe drauf, dass der Score unbedingt als Anschaffung auf Vinyl zu empfehlen ist.
Ganz ehrlich, ich war während und nach einem Film schon länger nicht mehr so ratlos, wie bei Titane. Julia Ducournaus Poetik ist ein Erzählen, das jenseits gängiger Vorgaben besteht und für mich absolut avantgardistisch vorausgeht zu etwas, das ich noch nicht ganz begreife, mir aber so vorkommt, als wäre ich hundert Jahre zurückkatapultiert und würde zum ersten Mal In der Strafkolonie von Franz Kafka lesen.
Titane wird anecken, abschrecken, anwidern, wütend und dellirierend machen, aber kalt wird er einen nicht lassen (nur jene, die sich völlig mit der alten Alexia identifizieren eventuell).
Ausnahmsweise kann ich mal keine steile These aufstellen, mache es aber doch. Die Vorgeschichte von Alexia erscheint nebulös und überhaupt nicht klar. Sie wird lediglich als nerviges Kind gezeigt, das entweder Aufmerksamkeit will oder ihrem Vater zeigen möchte, dass er ein gefühlskaltes Arschloch ist. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Ja, ich muss es für mich feststellen, Titane ist ein Liebesfilm in einer glattpolierten und eiskalten Welt, der seine über jede Grenze hinweggesprungene Protagonistin in das flammende Inferno einer Liebe wirft, die nicht jenseits des Menschen ist, sondern allüberbordend humanistisch.
Auch hier: absolut herausragend!
Allerdings möchte ich auch Friedrich Nietzsche mal wieder kolportieren und sagen:
"Ein Film für alle und keine*(n)."
Unbedingt ansehen!
10/10