Wissen Sie, wer für mich in Rene Harlins Bergsteiger Actioner Cliffhanger (1993) die Persönlickeit des Films ausfüllte? Nein, es war nicht etwa der muskelbepackte Sylvester Stallone, der die Hauptrolle des mutigen Rocky Mountain Rangers spielte, es war sein Gegenspieler, John Lithgow, der den zynischen, egozentrischen, psychopathischen Gewaltverbrecher exzellent verkörperte. Eine ähnlich verrückte Figur füllte er ein Jahr zuvor in dem teilweise extrem spannenden, aber auch etwas verworrenen Psycho-Thriller Mein Bruder Kain aus, in welchem er einen schizophrenen Familienvater mit mehreren Persönlichkeiten so brillant darstellt, dass es einem eiskalt den Rücken runter läuft. Lithgow besitzt eine einzigartige, gottgegebene Aura, die für dererlei Rollen prädestiniert ist und in Raising Cain, so der Originaltitel, hat er die perfekte Bühne für sein Können auf dem Silbertablett serviert bekommen.
Auf dem Regiestuhl nahm Suspense Spezialist Brain DePalma Platz, der für seine aufwühlenden Filme wie Sisters, Blow Out oder Dressed to Kill jedem Filmfreund ein Begriff sein sollte. Er wurde mit einem Budget von knapp 12 Millionen Dollar für Mein Bruder Kain ausgestattet und schrieb eigenhändig die komplette Story, welche voller Wendungen und Überraschungen steckt. Der Kinderpsychologe, liebende Ehemann und fürsorgliche Vater Dr. Carter Nix (John Lithgow) nimmt sich ein Jahr frei, um mehr für seine kleine Tochter Amy da sein zu können, sehr zur Freude von seiner Gattin Jenny (Lolita Davidovich). Doch als Carters Bemühungen um sein Kind immer intensiver, zwiespältiger und unberechenbarer werden, wird Jenny seine Besessenheit langsam unheimlich. Ohne zu ahnen, das Carter tatsächlich krank im Kopf ist und eine gespaltene Persönlichkeit besitzt, trifft sie sich auch noch heimlich mit ihrem ehemaligen Liebhaber Jack (Steven Bauer), was das Fass bei Carter endgültig zum Überlaufen bringt...
Die Opening Credits und der Film beginnen mit kindlichen, traurig-schön nachdenklichen, melancholisch klingenden Klaviertönen die zu Mein Bruder Kain passen wie die Faust aufs Auge, was Schönheit, Trauer und Tragik zu gleich austrahlt und als dann der liebende, über dem Kinderbett wachende Vater in schwarz-weiss Aufnahme erscheint, könnte man denken, dass man emotional für die nächsten folgenden knapp 90 Minuten gewappnet ist. Doch Mein Bruder Kain verändert sein Gesicht wie sein Hauptdarsteller seins von familienidyllisch seicht zu geheimnisvoll, durchtrieben, grausam und bizarr. In der nachfolgenden Sequenz fährt Carter mit seiner Tochter und einer befreundeten Mutter sowie ihrem kleinen Sohn vom Spielplatz mit dem Auto weg, während er von einer Sekunde auf die andere nach einer anscheinend harmlosen Unterhaltung über ein Kinderforschungsprojekt bösartig wird und die junge Frau mit einem Chloroform Taschentuch betäubt, wobei die kleinen Kinder auf dem Rücksitz schlafen. Als Carter in Panik gerät, weil Jogger vorbei kommen, erscheint neben ihm plötzlich sein Bruder Kain, einer seiner vielen multiblen Persönlichkeiten, der in Lederjacke und Sonnenbrille ihm einredet, was er zu tun hat. Carter befolgt dessen Rat reumütig nach John Lithgow's brillant gespielten Zwiegespräch mit seinem anderen ich...
Wie ein Chamäleon ändert Mein Bruder Kain auch im weiteren Verlauf immer wieder seine Tonart und kommt, gerade wenn der Zuschauer denkt, er hätte den Plot durchschaut, immer wieder mit neuen nervenzerreißenden Gegebenheiten, Ergänzungen und Handlungswendungen um die Ecke, was zu hoch spannender Unterhaltung, aber auch zu Fragezeichen führt, wenn man nicht wie ein Lux haargenau aufpasst. Aber das ist genau das, was der Film bezweckt: Sicherheit suggerieren und danach eiskalt zuschlagen, wie das alles in den Schatten stellende, dramatische, aber auch etwas überfüllt wirkende Finale eindrucksvoll demonstriert. Leider widerspricht sich der Film auch manchmal selbst und driftet in dem fast schon krankhaften Bestreben, Suspense und Plot Twists liefern zu wollen, in Unglaubwürdigkeiten und Logikdifferenzen ab. Bestes Beispiel ist das Wiedererscheinen einer totgeglaubten Person, welche die Situation nach den gezeigten Bildern niemals überlebt haben kann, sie aber trotzdem einzig und allein der Spannung wegen im späteren Verlauf zurückkehrt.
Bei der Inszenierung bleibt DePalma wenn man so will sich selbst treu: Wie von Ihm gewohnt gibt es auch in Mein Bruder Kain nicht übersehbare Hitchcock Hommagen, wenn beispielsweise ein schreiendes weibliches Opfer in einem Auto in einem See versenkt wird. DePalma typische Themen wie Kindheitstraumas, Voyeurisums, Psychologie und mentale Gewalt nehmen eine zentrale Bedeutung ein, vor allem wenn man bedenkt, dass die meisten tragenden Figuren Berufe (Arzt, Psychologe, Cop) mit dererlei Berührungspunkten ausführen. Auch optisch arbeitet er mit für ihn charakteristischen Stilmitteln wie langen Plansequenzen ohne Pausen, langsamen Schwenks, schwebenden Kamerafahrten, Zeitlupen oder fokussierenden Nahaufnahmen von Mundbewegungen und Gesichtern. Mein Bruder Kain gleicht einem Festival für die Sinne mit eleganten Bildern und visueller Pracht, obgleich sich DePalma vielleicht auch den Vorwurf gefallen lassen muss, es partiell mit Extravaganz und experimentieller Verspieltheit ein bisschen zu übertreiben, was den phasenweise etwas schwer zugänglichen Film gemeinsam mit seinen vielen Twists mit Sicherheit außerhalb des Mainstreams platziert und ihm beim damaligen Kinostart gemischte Kritiken und einen ausbaufähigen weltweiten Kinoumsatz von lediglich 37,1 Millionen Dollar einbrachte.
Brain DePalma war es auch, der in seinem Thriller Obsession 1976 einem damals noch relativ unbekannten John Lithgow eine größere Rolle gab. 1981 arbeite er auch mit ihm in Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren zusammen, so dass Main Bruder Kain ihr drittes gemeinsames Projekt darstellt. Beachtenswert ist, dass Lithgow sämtliche Persönlichkeiten seiner zwielichtigen Figur parallel selbst darstellt: Den Kinderpsychologen und Familienvater Dr. Carter Nix, den durchtriebenen, brutalen Kleinkriminellen Kain, den zurückhaltenden 7 jährigen Jungen Josh und Margo, die Kinder Nanny mittleren Alters. Auch Dr. Nix Senior, Carters geheimnisvoller Vater, wird von ihm verkörpert. Die sensationelle Performance Lithgows wandert irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn, wenn sich seine Mimik von weinerlich bemittleidenswert in jähzornig und wutentbrannt verwandelt oder er sich mit seinen erschienenen Geistern unterhält. Dass die anderen, mindestens solide aufspielenden Akteure wie Lolita Davidovich (Blaze - Eine gefährliche Liebe) oder Steven Bauer (Scarface) neben der Lithgow Gala mehr oder weniger untergehen, ist daher keine nicht all zu große Überraschung und somit auch kein Weltuntergang.
Da ich im engsten Umkreis früher auch Leute mit selbiger Beeinträchtigung kannte, weiß ich, dass Mein Bruder Kain die an sich traurige Thematik für einen auf Spannung ausgelegten Spielfilm so gut es geht realitätsnah widerspiegelt. Die Betroffenen können auch wenn sie es selbst wissen, dass sie krank sind, die Stimmen in ihrem Kopf nicht von der Realität unterscheiden, was im schlimmsten Fall zu Familientragödien und Gewaltverbrechen führen kann. Auch wenn der schockierende, meiner Meinung nach packende Film auch auf Grund seiner Komplexität und DePalmas Experimentierfreude nicht jedermanns Sache ist, sollten Freunde von spannender Thriller Unterhaltung diesen heut zu Tage etwas vergessenen Geheimtipp alleine schon wegen Lithgows faszinierender Schauspiel Demonstration eine Chance geben. "Du wirst ihr nichts tun! Sie wird dir weh tun!" MovieStar Wertung: 7 von 10 Punkte.
7/10