Somewhere over the Rainbow...
Die 1930er Jahre werden rückblickend nicht zu Unrecht als eines der fruchtbarsten Jahrzehnte der Filmgeschichte bezeichnet. Meisterwerke wie "Vom Winde verweht", "Cleopatra", "King Kong" und viele weitere ebneten aufstrebenden Schauspieler/innen, Regisseuren und Autoren den Weg in eine vielversprechende Zukunft, abseits der Wirren des beginnenden 2. Weltkrieges und den Folgen der Great Depression. Filmemacher aus aller Welt strömten regelrecht nach Hollywood und schufen unter dem Oligopol der großen Studios unvergessliche Klassiker. Einer davon ist der von Louis B. Mayer produzierte und 1939 von Richard Thorpe ("Ivanhoe - Der schwarze Ritter", "Im Schatten der Krone") und Victor Fleming ("Vom Winde verweht", "Johanna von Orleans", "Die Schatzinsel") verfilmte "Der Zauberer von Oz", ein märchenhafter Fantasyfilm, den es so fast nicht gegeben hätte…
Das junge Mädchen Dorothy lebt zusammen mit ihrer Tante und ihrem Onkel auf einer Farm in Kansas. Eines Tages während eines Wirbelsturms wird sie unfreiwillig samt Haus und Hund in das Auge des Sturms gesogen. Nachdem sie wieder zu sich kommt, findet sich Dortothy im märchenhaften Land Oz wieder, wo sie gemeinsam mit einer Vogelscheuche, einem Blechmann und einem ängstlichen Löwen die Hexe des Westens aufhalten und den Rat des Zauberers von Oz suchen muss, um wieder nach Hause zu gelangen.
Toto, I think we’re not in Kansas anymore…
Das Drehbuch basiert auf der beliebten und erfolgreichen 1900 erschienenen Novelle "The Wonderful Wizard of Oz" von Lyman Frank Baum. Metro-Goldwyn-Mayer, kurz MGM, erwarb die Filmrechte von Samuel Goldwyns vormals unabhängigen Produktionsstudio Goldwyn Productions, wo sie bereits einige Jahre in der Schublade lagen, und ließ Produzent Mervyn LeRoy ("Blüten im Staub", "Dreißig Sekunden über Tokio", "Escape") zunächst von William H. Cannon ein kurzes Skript anfertigen. Da Fantasyfilme sich zur damaligen Zeit an den Kinokassen schwer taten, wurde die Geschichte um sämtliche magische und fantastische Elemente erleichtert und die Charaktere drastisch verändert, in Anlehnung an eine frühere Verfilmung des Stoffs von Larry Semon aus dem Jahr 1925, eine von vielen Stummfilmvarianten, in der ebenfalls alles, was irgendwie an Magie, Hexen und Zauberer erinnerte, ausgelassen wurde, was ziemlich unpassend und merkwürdig anmutet. Erst Walt Disney's "Schneewittchen und die sieben Zwerge" zeigte, dass sich mit Kinderfilmen derartigen Kalibers noch ordentlich Geld verdienen ließ. Trotz des schwer kalkulierbaren Risikos nährte man sich mit den Fassungen von Noel Langley, Odgen Nash, Florence Ryerson ("Tanz auf dem Eis") und Edgar Allan Woolf ("Ring frei für die Liebe", "Freaks") wieder der Originalvorlage an und die Magie fand ihren Weg zurück in die geheimnisvollen Lande von Oz. Insgesamt arbeiteten 14 (!) Autoren und Autorinnen an der Adaption. Den finalen Schliff erhielt "Der Zauberer von Oz" dann praktisch in der letzten Minute, kurz vor Drehbeginn im Oktober 1938. Sozusagen ist die Geschichte des Films also das Werk vieler kreativer Köpfe, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Drehbuchfassungen arbeiteten, die am Ende in einen Topf geworfen wurden. Der starke Kontrast zwischen Dorothys tristen Leben in Kansas und ihren Abenteuern in der bunten Welt von Oz ist z.B. ein direktes Resultat dieser unterschiedlichen Adaptionsansätze. Die eindeutigen Parallelen zwischen vermeintlicher Fiktion und Realität sowie die Ähnlichkeiten der Charaktere (die Farmarbeiter und die drei Gefährten, Professor Marvel und der Zauberer etc.) beider Welten implizieren dabei, dass sich das Erlebte nur in Dorothys Kopf abgespielt haben könnte, da sie während des Sturms offensichtlich ohnmächtig wurde. Im Grunde lässt sich das Erzählte so auf die einfache Formel vieler Märchen und Folklore, in denen das Gute gegen das Böse kämpft und die Figuren ihre eigenen Ängste und Zweifel überwinden müssen, um zu bestehen, herunterbrechen. Ob das erlebte dabei nun real ist oder nicht, spielt in der recht simplen Narrative nur eine untergeordnete Rolle. Die direkten und auch indirekten Einflüsse von Charles Dickens, diverser Grimm-Märchen sowie die von Fantasy Geschichten wie "Alice im Wunderland" und deren häufig mitschwingender, düsterer Unterton sind hier stets spürbar, wenn sie auch durch die Leichtigkeit und den Humor der musicalhaften Inszenierung ausgeglichen werden. Lässt man sich darauf ein, breitet sich recht schnell eine fantasievolle Welt vor einem aus, die so perfekt arrangiert ist, dass sie garantiert zu verzaubern weiß.
Die Wahl der Schauspieler gestaltete sich ähnlich turbulent, wie das Schreiben des Drehbuchs. Ursprünglich war die junge Shirley Temple für die Rolle der Dorothy vorgesehen. MGM hoffte, dem Film durch die Besetzung der Hauptrolle mit dem beliebtesten Kinderstar dieser Zeit zusätzlichen Aufwind zu verschaffen. Allerdings konnte man aufgrund vertraglicher Schwierigkeiten mit 20th Century Fox Temple nicht für das Projekt gewinnen. Auch die zweite Wahl, Deanna Durbin, musste man aufgeben und so ging der Kelch dann an Judy Garland ("A Star is born", "Meet me in St. Luis") über, die entgegen den Erwartungen von Mayer und LeRoy mit ihrem bezaubernden Charme, ihrem Gesang und dem Herzblut, welches sie in ihre Rolle legte, alle Herzen im Vorbeigehen stahl. Die Rolle der starken und entschlossenen jungen Dame aus Kansas war Garland wie auf den Leib geschrieben, was maßgeblich für den großen Erfolg des Films verantwortlich war denn starke Frauenfiguren, die nicht von Rittern in strahlenden Rüstungen gerettet werden müssen, sondern ihren eigenen Weg gehen, fanden eben viel Anklang beim Publikum. Auch Dorothys Freunde und Begleiter wurden durchgehend hochkarätig besetzt und ebenso professionell wie beeindruckend herzlich und witzig auf die Leinwand gebracht. So spielt Jack Haley ("Scared Stiff", "Higher and Higher") den leicht tollpatschigen Blechmann, Ray Bolger ("April in Paris") die Vogelscheuche und Bert Lahr ("Schiff Ahoi!", "Flying High") den ängstlichen Löwen. Außerdem sind Billie Burke ("Topper - Das blonde Gespenst") als Glinda und Frank Morgan ("Rendezvous nach Ladenschluss", "Tödlicher Sturm") als Professor Marvel/der Zauberer von Oz zu sehen. Die böse Hexe des Westens wird von Margaret Hamilton ("Das unheimliche Erbe") zum Leben erweckt, welche in ihrer diabolischen Rolle bis zum legendären Showdown zwischen ihr und einem Wassereimer vollends aufgeht.
Auch inszenatorisch kann "Der Zauberer von Oz" auf ganzer Linie überzeugen. Obwohl anfangs nicht klar war, ob und wie viele Spezialeffekte in der Vorproduktion vonnöten waren und wie groß das Ganze werden würde, da das Drehbuch, wie oben erwähnt, ständig umgeschrieben wurde und niemand wusste, ob überhaupt Magie oder ähnliches im fertigen Film zu sehen sein sollte, schaffte man das Kunststück, einen der, meiner Meinung nach, audiovisuell schönsten Filme aller Zeiten zu erschaffen, der auch noch Jahre später Maßstäbe in der Branche setzen sollte. Verantwortlich dafür zeichneten Harold Rosson ("Die Schatzinsel", "Singin' in the Rain") hinter der Kamera sowie Cedric Gibbons (Schöpfer der "Oscar"-Statue) und William A. Horning ("Die Katze auf dem heißen Blechdach", "Ben Hur") die für das detailreiche Set- und Produktionsdesign engagiert wurden. Gedreht wurde in Schwarz/Weiß bzw. eingefärbt in Sepia für die Szenen in Kansas und in Drei-Band-Technicolor für die Szenen in Oz. Der Übergang zwischen dem tristen Kansas und der bunten Märchenwelt gehört heute noch zu den beeindruckendsten Szenen der Filmgeschichte und wurde seitdem hundertfach zitiert. Die zahlreichen und für die damalige Zeit sehr aufwendige Pyrotechnik, Modellbauten, Rückprojektionen und Stop-Motion-Effekte wurden größtenteils von A. Arnold Gillespie ("Dreißig Sekunden über Tokyo", "Ben Hur") realisiert. Die wundervollen Kostüme erschuf Adrian Greenberg ("Die Frau im Rampenlicht"). Da "Der Zauberer von Oz" auch nicht mit Musicaleinlagen geizen sollte, wurden für die Komposition und Aufnahme der mittlerweile weltbkannten Songs Harold Arlen ("A Star is born") und Yip Harburg verpflichtet, unterstützt duch den tollen Original-Score von Herbert Stothart ("Rose-Marie", "The Lottery Bride").
Auf der Yellow Brick Road zum Ruhm!
- Bei der Oscarverleihung 1940 musste sich "Der Zauberer von Oz" gleich gegen drei Schwergewichte des Kinojahres 1939 behaupten. "Vom Winde verweht", "Mr. Smith geht nach Westen" und "Ringo" konnten die meisten Trophähen mit nachhause nehmen. Von den 6 Nominierungen gewann Der Zauberer von Oz einen Oscar für den besten Originalsoundtrack von Herbert Stothart und einen der begehrten Goldjungen für den besten Filmsong ("Over the Rainbow"). Judy Garland wurde zudem mit dem Ehrenoscar als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Dies verschaffte ihr einen enormen Sprung nach vorne in ihrer Karriere und machte sie, aller Widrigkeiten (auf die ich später noch eingehen werde) zum Trotz, zu einer der ikonischsten und begehrtesten Schauspielerinnen ihrer Zeit.
- Mit einem Budget von 2,77 Mio USD, der bis dato teuerste Film der MGM Studios, und zusätzlichen Werbekosten von ca. 1 Mio USD spielte "Der Zauberer von Oz" in seinem Erscheinungsjahr 1939 lediglich 3 Mio USD wieder ein. Für MGM also zunächst ein Verlustgeschäft. Erst zur Wiederaufführung 1949 kam der große Durchbruch und das Werk entwickelte sich, dank eines cleveren Deals mit den Betreibern des neuen Mediums „Fernsehen“ Anfang der 50er Jahre, über die folgenden Jahrzehnte zu einem der größten finaziellen Erfolge für das Studio und zum meistgesehenen Film aller Zeiten.
- Der Autor der Originalvorlage, L. Frank Baum, schrieb "The Wonderful Wizard of Oz" mit dem Ziel, eines der ersten, originalen amerikanischen Märchen zu erschaffen. Die Geschichte steckt voller Querverweise und Erfahrungen aus Baums Leben und Referenzen zum damaligen politischen und historischen Zeitgeschehen um die Jahrhundertwende. Unter anderem versuchte Baum auf die Situation der amerikanischen Ureinwohner einzugehen, die unter der zunehmenden Reservation litten und im Begriff waren, ihr Land und ihre kulturelle Identität zu verlieren. Desweiteren verewigte Baum in der Hauptfigur Dorothy die verstorbene Tochter seines Schwagers, seine Mutter und seine Ehefrau Maud, welche ihn beide als starke, unabhängige Frauenfiguren auf seinem oft beschwerlichen Weg begleiteten und unterstützten. Insgesamt könnte man ein ganzes Buch mit Anekdoten füllen, die Baum in seiner Novelle verarbeitet hat, z.B. wurde er während seiner Zeit als freier Reporter im mittleren Westen der USA einmal Zeuge, wie ein Tornado einen Holzschuppen aufnahm und 2 Meilen weiter wieder nahezu unbeschädigt absetzte. Dass viele dieser wunderbaren, kleinen Details ihren Weg ins Drehbuch und den fertigen Film fanden, ist dem Engagement von Florence Ryerson und Edgar Allan Woolf zu verdanken.
The Dark Side of Hollywood...
- Judy Garland wurde während des Castings von Mayer aufgrund ihres Gewichts mehrfach als "Little Miss Piggy" bezeichnet. Für die Produktion musste sie eine harte Diät durchstehen, die beinhaltete, in den Drehpausen Kaffee und mehrere Zigaretten zu konsumieren, um ihren Appetit zu unterdrücken. Die "zu weiblichen Kurven" der damals 16-jährigen Garland wurden durch ein schmerzhaftes Korsett geglättet. Außerdem wurden ihr Amphetamine verabreicht, um die harten Drehtage von teilweise 12 bis 14 Stunden am Stück durchzustehen. Anschließend musste sie stark abhängig machende Schlafmittel einnehmen, um überhaupt zur Ruhe zu kommen. Die Abhängikeit zu eben diesen Schlafmitteln führte 30 Jahre später zu ihrem Tod durch eine, offensichtlich unabsichtliche, Überdosierung, 12 Tage nach ihrem 47. Geburtstag.
- Ursprünglich wurde für die Rolle des Blechmanns Buddy Ebsen engagiert. Nach nur wenigen Drehtagen musste er aufgrund einer lebensbedrohlichen Atemlähmung, ausgelöst durch das Einatmen des Aluminiumpulvers, aus dem sein Makeup bestand, ins Krankenhaus eingeliefert werden. Nach 6 Wochen Krankenhausaufenthalt, teilweise unter dem Sauerstoffzelt, wurde er Gerüchten zufolge vom Studio gefeuert, da die Produzenten glaubten, Ebsen simuliere nur, und schließlich durch Jack Haley ersetzt, dessen Makeup nun plötzlich aus Aluminiumpaste bestand. Keine der mit Ebsen zuvor gedrehten Szenen fand ihren Weg in den fertigen Film, jedoch sein Gesang ist in den meisten Stücken noch zu hören, da diese vor Drehbeginn aufgenommen wurden.
- Margaret Hamilton erlitt durch ihr Makeup, welches zu großen Teilen aus Kupferoxid (wegen seiner charakteristischen Grünfärbung) bestand, eine Vergiftung, die mit ihrer späteren Altzheimererkrankung in Verbindung gebracht werden konnte. Auch noch Wochen nach dem Dreh war ihre Haut grün verfärbt. Zudem zog sie sich bei einer pyrotechnischen Fehlfunktion schwere Verbrennungen an Händen und Gesicht zu, die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machten. Nach ihrer Rückkehr ans Set verweigerte sie ihre Beteiligung an Szenen, in denen Pyro-Effekte zum Einsatz kommen sollten. Stattdessen drehte man diese mit Hamiltons Stunt-Double, die sich ebenfalls schwer verletzte.
- Die kleinwüchsigen Darsteller der Munchkins sorgten oft für Schwierigkeiten vor und hinter den Kulissen. Schlägereien, sexuelle Übergriffe, u.a. auch auf die junge Judy Garland, und Alkoholexzesse waren an der Tagesordnung. Einer der Darsteller erschien eines Tages mit einer Pistole am Set, in der Absicht, den Liebhaber seiner Frau, die ebenfalls beide an der Produktion mitwirkten, zu erschießen.
- Die Legende, dass in einer Einstellung ein toter Munchkin zu sehen ist, stellte sich erst Jahre später nur als solche heraus. Lange Zeit hielt sich das Gerücht, einer der kleinwüchsigen Schauspieler hätte sich am Set erhängt. Letztendlich, dank besserer Bildqualität, wurde der vermeintliche Suizid als Kranich entlarvt, der durch die Kulisse watet.
- Das Technicolor-Verfahren benötigte sehr viel Licht am Set, was nur durch eine große Menge leistungsstarker Studioscheinwerfer zu bewerkstelligen war. Diese ließen die Temperaturen teilweise auf über 40°C ansteigen. Am meisten litt Bert Lahr darunter, dessen 30 Kilogramm schweres Kostüm aus einem echten Löwenfell bestand. Aufgrund des Kostüms und des Makeups konnte Lahr sich während der Drehpausen nur durch einen Strohhalm ernähren.
Letztendlich zeigt dieser unschöne Blick hinter die Kulissen, dass auch das alte Hollywood in seiner goldenen Ära der großen Studios wie MGM, Paramount, 20th Century Fox & Co. leider nicht so glorreich und fantastisch war, wie die unvergesslichen Filme, die es hervorgebracht hat. Korruption, Missbrauch und schlechte Arbeitsbedingungen sind keine Phänomene der Neuzeit, denkt man da zum Beispiel an den Fall Harvey Weinstein, nur damals war es leichter, Schauspieler/innen, Autoren, Regisseure, sogar Verleiher und einzelne Kinoketten unter Druck zu setzen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Eine Besserung trat erst in der Nachkriegszeit ein, als sich Gewerkschaften besser zu organisieren lernten und Bundesstaaten gegen einzelne Studios vorgingen, um ihren Einfluss zu schmälern, der künstlerischen Freiheit wieder mehr Raum zu verschaffen und den Wettbewerb zu reanimieren.
There’s no place like home…
Fazit:
"Der Zauberer von Oz" ist ein wegweisendes, zeitloses Meisterwerk des fantastischen Films, das seine Faszination auch nach über 80 Jahren nicht verloren hat und auch heute noch Generationen zu begeistern weiß. Ein Wermutstropfen ist dabei die teilweise unrühmliche Entstehungsgeschichte, die zwar keinen Einfluss auf meine Wertung hat, aber auch nicht unerzählt bleiben sollte. Ein wenig Trost kann man wohl darin finden, dass "Der Zauberer von Oz" seine Figuren, und somit auch die wundervollen Menschen hinter den Masken und Kostümen, unsterblich gemacht hat, allen voran Judy Garland.
10/10 Punkte!
10/10