Im kommenden Jahr wird der Horrorfilm GOODNIGHT MOMMY in Amerika erscheinen. Das Remake des Films, den ich mit dieser Review bespreche.
Der erinnerte mich geistig ein wenig an David Cronenbergs DEAD RINGERS, zu dem ich bereits eine Review verfasst habe. In diesem Meisterwerk mit Zwillings-Protagonisten geht es auch darum, was Menschen nach außen hin darstellen, und wie sie dabei versuchen, die Balance zwischen Ich, Überich und Es zu halten.
ICH SEH, ICH SEH beschäftigt sich ebenfalls auf einem hohen Niveau mit diesem Thema, aber auf eine andere besondere Weise. Ein paar Vergleiche kann ich ziehen. Für mich gehört ICH SEH, ICH SEH zu den besten Filmen mit österreichischen Hintergründen, die ich besprochen habe, die wären DIE WAND, DAS WEISSE BAND und THE TROUBLE WITH BEING BORN, und tatsächlich sehe ich auch Parallelen zu diesen Meisterwerken. Sie thematisieren auch das Prinzip, innerhalb einer begrenzten Freiheit gefangen zu sein.
Eine schöne Landschaft, die Ruhe der Abgeschiedenheit in der Natur, sowie der gelegentliche Spaß der Kinder, sind bald von einem Drama überschattet. Laufen die Zwillinge durch ein Unwetter, einem Traktor während der Kornernte hinterher, oder springen sie in den See vor der Haustür, ist das naturgetreu gehalten, man ahnt förmlich, was die Sinne wahrnehmen. Etwas von der Magie, die Kinder erleben können. Unfassbar, wie schnell das geheimnisumwitterte Spiel mit der Identität beginnt. Die Jungen spielen ein Versteckspiel, einer trägt eine Maske. Traurig gestimmte Chöre weichen einer bedrohlichen Geräuschkulisse, so wie das Sonnenlicht der Dunkelheit, die die Brüder neugierig erkunden. Im Beinhaus finden sie ein verletztes Tier, um das sie sich kümmern.
Die Mutter der Zwillinge ist auch angeschlagen, und durch einen Verband vermummt, wer kümmert sich um sie? Im großen, geräumigen Haus mit Designermöbeln, diesem unnatürlich wirkenden Inneren, verzieren schattenhafte Silhouetten von Frauen mehrere Stellen, im Hintergrund aufgereihte Puppen sah ich mit anderen Augen als sonst. Dort ist man kontrastiv von dem fruchtbaren Leben da draußen abgesondert. Die Frau ist eine Moderatorin, und, gibt Fernsehsendungen ihr Gesicht, das nun entstellt ist. Fernab von Trubel sind ihre Kinder dazu gezwungen, sie neu zu definieren. Famos gespielt, wie Elias und Lukas auf die Befremdung reagieren. Schwieriger können sie es kaum haben, schließlich ist die Bindung zur Mutter von existenzieller Bedeutung.
"WIR FANGEN NEU AN."
Sagt die Mutter, und erdrückt ihre Kinder mit Forderungen, Erwartungen, Verlangen und Gehorsam, deren Abhängigkeit maximiert sich auch aufgrund der Einsamkeit. Peu à peu breitet sich die Isolation der Drei aus. Die Umwandlung der Protagonistin spiegelt sich durch ein tyrannisches Verhalten akkretiv wider. Diese widernatürliche Abwandlung bildet eine unveränderliche Basis für eine Entfremdung heraus. Da sich die weibliche Figur entgegen einem natürlichen Verhalten entwickelt, verliert sie das Gesicht, es entsteht ein grauenvoller Abgrund. Schier unaufhaltsam zieht sich die Schlinge kontinuierlich zu.
ICH SEH, ICH SEH ist ein Kammerspielfilm, der den Archetyp, der nicht zu leugnen ist, das erlernte Miteinander, basierend auf dem Urvertrauen, zum erschreckenden Zerrbild transformiert. Ein Resultat der Verhaltensweisen. Haben Kinder berechtigterweise eine große Angst vor ihrer Mutter, ist das erschreckend. Der Mensch, der den Zwillingen das Leben schenkte, und deren persönliche Entwicklung nach eigener Maxime als ein Teil seiner selbst formt, zwingt den Nachwuchs regelrecht zur Selbstaufgabe, und schneidet sich dadurch ins eigene Fleisch. Die Protagonistin zweckentfremdet die natürliche Spiegelung zwischen Mutter und Kind, und projiziert ihre Verwirrtheit. Diese Übertragung ist folgenschwer, der nächste qualvolle Prozess beginnt. Und dieser steigert das Es extrem.
Der psychologische Machtkampf ist Horror, der das Gefühl der Figuren, dass das alles nicht wahr sein kann, auch durch surreale Elemente intensiviert. Mehrere Facetten der Traumdeutung werden entfacht, jede ist schlüssig, keine verliert an Wirkung, wenn sie nicht erklärt wird. VALERIE- Eine Woche voller Wunder, durch diese Deutungen theoretisch zu konkretisieren, war mir eine Freude, die Aussagekraft von ICH SEHE, ICH SEH würde ich dadurch vermutlich entzaubern. Dieser Film wendet psychologische Impulse an, die nicht analysiert werden 'müssen'. Philosophische Ideen sind nicht zu übersehen, auch, wenn sie vielleicht erst durch die Resonanz besser verständlich werden. Das letzte Mal, dass ich einen Film sah, der so herausragend die Bedeutung von Feuer und Wasser parallelisierte, war wohl DARK WATERS (Review vorhanden), eine Empfehlung von TheRealAsh. Der talentierte Schriftsteller und Autor für Reviews wäre wohl auch sehr von dieser Dramaturgie angetan. Und, nicht nur Stephen King weiß es grandios, sich in Schutzbefohlene hineinzuversetzen, ICH SEH, ICH SEH kann da mithalten. Begibt man sich auf die Seite der Brüder, und will herausfinden, warum die Erziehungsberechtigte sich so verändert hat, ist der Zwiespalt um so größer, desto weiter sie sich von ihrem Überich entfernen. Dann fließt Blut. Alle, die sich dazu bewogen fühlen, jeden Vorgang dieses Films von der Ratio bestimmt zu verstehen, können schnell die Ebene übersehen, auf der dieser Psychohorror so gut funktioniert, und ignorieren, dass es da welche gewagt haben, sich in Richtung David Lynch zu bewegen. Dass es sich bei ICH SEH, ICH SEH auch noch um ein Spielfilmdebüt handelt, ist kaum zu glauben.
Veronika Franz und Severin Fiala führten die Regie, und schrieben das fulminante Drehbuch, mit THE LODGE wiederholten sie das. Für ICH SEH, ICH SEH erhielten sie 23 Auszeichnungen! Franz ist mit dem Regisseur , Drehbuchautor und Produzenten Ulrich Seidl verheiratet (Import Export), der ihr Spielfilmdebüt auch produzierte. Die Grundvoraussetzung war genial, da die Akteure nicht wussten, was sie erwartete, und einfach chronologisch die Szenen spielten. Lukas und Elias wurden von Lukas und Elias Schwarz verkörpert, bisher zeigten sie ihre beachtenswerte Fähigkeit leider in keinem anderen Film. Susanne Wuest (Parfum, Sunset) ist kein unbeschriebenes Blatt, sie brilliert als weibliche Hauptfigur. Ihr verhülltes gutes Aussehen verbindet zwei spannende Kontrapunkte. Wuest, Elias und Lukas, stellen einen gefährlichen psychodynamischen Konflikt dar, der unberechenbar scheint, und eine enorme schauspielerische Bandbreite benötigt. Ob die Akteure, die Musik von Olga Neuwirth (Kill Daddy Goodnight), Martin Gschlachts (Alpha) Kameraarbeit oder Michael Palms (Sea Concrete Human) Schnitte, einfach alles harmoniert.
Auf dem Maisfeld, im Wald, im Haus, überall wurden das Licht und der Kontrast zu den Schatten formidabel eingefangen, ein perfekter Hintergrund für die Suggestion. Das Breitbildformat gibt der Schönheit der Natur sowie dem Schrecken immer genügend Raum. Mit der Totalen und der extremen Totalen ist die Tatsache, dass sich die Zwillinge auch auf Feldern und Wiesen wörtlich alleingelassen fühlen, prächtig inszeniert. Das Haus braucht keine knarrenden Dielen, Spinnweben und dunkle Keller, um als Schauplatz des Psychohorrors zu funktionieren, eine realitätsnahe, vorstellbare Leere ist erschreckender. Diese Gestaltungsweise verleiht der Abstraktifizierung ihre Wirkung. Faszinierend, wie Träume, das sichtbare Unterbewusstsein, inszenatorisch und damit dramaturgisch erfolgreich zwischen Verzerrung und realistischer Wahrnehmungen pendeln. Ein am Boden zerstörter Mensch liegt neben einem Kadaver, die Mutter wirkt von Geheimnissen umgeben und mit dem vermummten Antlitz gespenstisch, sie schaut in einen dunklen Raum, wir wissen, wer sich darin versteckt und fürchtet.
Fans vom psychologischen Horror sollten zugreifen! ICH SEH, ICH SEH ist ein erstklassiger Film, bei dem man vom Anfang bis zum Ende rätseln kann. Hat man den Plot und den Twist erfasst, oder sieht den Film ein zweites Mal, beeinträchtigt das nicht unbedingt die Spannung.
8/10