Die Ära der berüchtigten "Video Nasties" hatte Großbritannien in den 80er Jahren fest im Griff. Hysterie und Wahnsinn an allen Straßenecken, Empörung über kleine, rechteckige, schwarze Plastikhüllen, auf deren eingelegten Bändern unheilvolle Schandtaten feilgeboten wurden, hauptsächlich verbreitet von verbrecherischen Videothekenbesitzern, denen jeder Sinn für Anstand und Moral abhandengekommen ist. Dank des zwielichtigen Treibens der manipulativen Filmindustrie und den Despoten des schlechten Geschmacks wurden Kinder auf den Schulhöfen bereits zu potenziell mordenden Bestien programmiert. Für die Sittenwächter der angelsächsischen Schlechtwetterinsel schlug nun die große Stunde. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Zivilisation unter der Last der cineastischen Grausamkeiten nicht vollkommen zusammenbricht. Um eine dieser Sittenwächterinnen dreht sich die Geschichte von "Censor", einem britischen Horrorfilm mit Giallo- und Hammer (das Studio) Einschlägen von Spielfilmdebütantin Prano Baily-Bond ("Fright Bites", "The Trip", "Nasty"), angelehnt an jene Dekade, in der es wichtiger war, harmlose Filme zu verbieten, als Waffen und Drogen…
Enid ist eine Filmprüferin, die für die BBFC, zusammen mit ihren Kollegen entscheiden muss, welche Szenen in einem Machwerk bleiben dürfen, und welche nicht, oder ob es sinnvoll ist, die Freigabe ganz zu verweigern. Bei einer ihrer Sichtungen meint sie, ihre seit 11 Jahren vermisste Schwester in einem Film des Regisseurs Frederick North wiederzuerkennen. Gegen ihre Moralvorstellungen und die Verpflichtungen ihres Jobs begibt sie sich in den Untergrund der Filmindustrie auf die Suche nach ihrer Schwester und gerät dabei in eine Abwärtsspirale aus Angst und Gewalt…
Obwohl Drehbuchautor Anthony Fletcher ("Nasty", "The Boat People") zusammen mit Regisseurin Baily-Bond "Censor" ganz klar als Hommage an die "Video Nasties"-Zeit konstruiert hat, viele humoristisch angelegte Anekdoten darüber erzählt, wie solche Prüfungen vonstattengegangen sein müssen und welche kriminalisierenden Auswirkungen dieser Wahn auf die Filmindustrie, die Kinos und Videothekenbeitzer hatte, steht im Mittelpunkt der Handlung Enid, die in all den Wirren mit sich selbst, ihrem Verlust, ihrer vermeintlichen Schuld und ihrer Außenwelt klarkommen muss. Anfangs gestaltet sich der Zugang zu dieser doch recht persönlichen Thematik noch als recht oberflächlich und schwierig, da der Reiz groß ist, sich in der liebevoll zusammengestellten Bilderflut der 80er Jahre und den kleinen Details - wie z.B. Margaret Thatchers Ansprache zu Gewalt in Filmen – zu verlieren. Die Handlung nimmt dann aber doch noch Fahrt auf und die Ereignisse überschlagen sich für die Protagonistin, deren psychischer Verfall immer weiter voranschreitet und schließlich in einem blutigen Finale und einem herrlich bizarren Ende gipfelt. Dass dies im letzten Drittel erst mit dem Holzhammer herbeigeführt werden muss, könnte dem einen oder anderen sauer aufstoßen. Wer sich aber damit anfreunden kann, dass "Censor" über weite Strecken vordergründig mehr ein Sammelsurium an VHS-, Kino- und Zensurkuriositäten abspult, und oft nur zwischen den Zeilen ein ausgefeiltes Psychogramm einer Person ist, der die Verstrickung in den Sittenwahn zu Kopfe steigt, wird hier voll auf seine Kosten kommen.
Lobend hervorzuheben ist dabei Hauptdarstellerin Niamh Algar ("Raised by Wolves", "The Virtues") in der Rolle als Enid. Eine augenscheinlich graue Maus, bieder, zugeknöpft und kühl in ihrem professionellen Auftreten, aber im Kern zutiefst erschüttert über den Verlust ihrer Schwester und umgetrieben durch die Umstände ihrer Tätigkeit. "Censor" stellt auf beinahe satirische Art und Weise die Frage, wie denn die Prüfer mit den ihnen vorgesetzten Grausamkeiten klarkommen und wie es um deren Geisteszustand bestellt ist, welche Algar hier formidabel beantwortet. An ihrer Seite gibt Comedian Michael Smiley ("Black Mirror", "Star Wars: Rogue One", "Kill List") den exzentrischen Filmproduzenten Doug Smart, Adrian Schiller ("Die Schöne und das Biest", "Tolkien", "Bright Star") den Regisseur Frederick North und die schöne Sophia La Porta ("Ripper Street") die geheimnisvolle Schauspielerin Alice Lee.
Da "Censor" inhaltlich und inszenatorisch in die Kerbe eines "Berberian Sound Studios" oder "The Editor" schlägt, und man ihm auch sonst nicht die Nähe zum "Neo-Giallo" absprechen möchte, bewegt sich Kamerafrau Annika Summerson ("Until the River runs Red", "Breeders") auf relativ soliden Pfaden aber doch eher in Richtung "Hammer-Horror". Setdesign, Beleuchtung und Farben sorgen für eine tolle Atmosphäre, alles spielt sich entweder in engen verqualmten Räumen oder dunklen Wäldern ab, was für ein gewisses Maß an Klaustrophobie sorgt und zur Grundstimmung sowie der Charakterentwicklung passt. Die britisch korrekten 80er Jahre und die fragwürdige Politik im Bezug auf Medien dieser Zeit findet somit eine angemessene Projektionfläche. Gewalt zeigt sich darauf nicht nur in der tollen Einleitung, begleitet von Ausschnitten aus "The Driller Killer", "Mother’s Day", "AXE" oder "Evilspeak", gemischt mit einigen Szenen aus fiktiven Werken, sondern auch in Enids Realität, wo ein gewonnener Filmpreis für Goreeffekte einem arglosen Opfer zum Verhängnis wird oder munter Köpfe mit einer Axt abgetrennt werden. Der charakteristische Synthie-Score von Emilie Levienaise-Farrouch ("The Innocents") begleitet sowohl das blutige, als auch das unblutige Treiben stets rythmisch und melodisch.
Nach diversen Runden über namhafte internationale Filmfestivals im Frühjahr 2021 erschien "Censor" im Juli des selben Jahres mit einer Freigabe ab 16 Jahren, hierzulande sowohl im Kino, als auch auf diversen Streamingplattformen und kurz darauf in Großbritannien auf DVD und Blu-Ray, darunter eine wundervoll aufgemachte und limitierte Blu-Ray Box von Second Sight Films. Eine weitere, edle US-Veröffentlichung von Vinegar Syndrome mit reichlich Bonusmaterial wurde Anfang 2022 nachgeschoben. Abseits des Streamings steht in Deutschland noch eine physische Heimkino-Veröffentlichung aus.
Fazit:
Durchaus gelungener und atmosphärischer Zitatemarathon mit vielen liebevoll eingepflegten Details und mitunter zynischen Kommentaren, der aber leider besonders am Anfang über lange Strecken eben nur das bleibt, ohne in die Tiefe der eigentlichen Handlung vorzudringen. Das ist schade, denn diese hat, abseits der Metaebene, einiges zu bieten und auch einiges zu sagen, was man so nicht erwartet hätte. Auf den letzten Metern unheimlich sehenswert, aber eben als Gesamtpaket nicht ganz ausgereift.
6 - 6,5/10 Punkte
6/10