Wie weit würden Sie gehen, um das Leben ihres Kindes zu retten? Jede Mutter und jeder Vater, die bzw. der sein Kind über alles liebt, würde ohne mit der Wimper zu zucken sagen "Für mein eigen Fleisch und Blut würde ich alles tun!" Wirklich? Denn wer den schockierenden, hochspannenden, aber zum Ende hin auch etwas aus dem Ruder laufenden, übernatürlichen Psycho Horror Film Son (2021) gesehen hat, wird wahrscheinlich zumindest mit der Antwort auf diese provokante Frage aus dem Werbetext des Filmes etwas zögern, wenn man sich selbst einmal in die Lage der Protagonistin versetzt, die eben auch alles für ihr krankes, besessenes Kind tut und dabei jegliche moralische Instanzen über Bord wirft bzw. komplett an ihre Grenzen stößt. Son, der auch ein paar richtig derbe Gewaltspitzen parat hat, ist mit Sicherheit nichts für schwache Nerven und wirkt erschütternd und faszinierend zu gleich, wer eine Sichtung wagt, sollte zumindest was für an die Substanz gehende Unterhaltung übrig haben.
Inszeniert und geschrieben wurde Son von Ivan Kavanagh, der die Idee zum Film nach der Geburt seines ersten Sohnes entwickelte, da er nicht ohne Komplikationen auf die Welt kam und die nachfolgenden Monate für das Paar extrem belastend waren. "Aus der Furcht und aus der Angst um meinen Sohn entstand Son" gab Kavanagh einst in einem Interview zu Protokoll. Die Geschichte wirkt wie eine Mischung aus Der Exorzist (1973) und Rosmarys Baby (1968): Vor acht Jahren konnte die hochschwangere Laura (Andi Matichak) sich aus den Klauen einer satanischen Sekte befreien. In der Gegenwart lebt sie nun mit ihrem Sohn David (Luke David Blumm) in einer idyllischen Vorstadt. Eines Nachts holt sie jedoch ihre Vergangenheit ein, als sie vermeindlich in Davids Zimmer fremde Personen vorfindet. Nachdem Vorfall ist der Junge wie ausgewechselt. Unter unvorstellbaren Qualen bekommt er epileptische Anfälle und spuckt Blut, während Laura und David später herausfinden, dass das Heilmittel der mysteriösen Krankheit moralische, gesellschaftliche, gesetzliche und ethnische Vorgaben vollkommen torpediert. Dem Polizisten Paul (Emile Hirsch), der ihr unterstützend zur Seite steht, sagt sie keinen Ton von ihren Erkenntnissen, da sie mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren muss, wie weit sie gehen will, um das Leben ihres über alles geliebten Sohnes zu retten...
Das erste, was ich nach der kürzlichen Sichtung von Son tun musste, war erstmal gewaltig schlucken. Son ist ein Film, der nachhaltig wirkt und einen auch noch lange Zeit beschäftigt. Die Schauspieler, allen voran Andi Matichak als zwielichtige, besorgte Mutter und Luke David Blumm, der den bedauernswerten, vom Schicksal gestraften Jungen evident verkörpert, legen beeindruckende Performances hin, sie spielen derart ergreifend und unter die Haut gehend, dass man den Eindruck gewinnt, selbst ein Teil des Geschehens zu sein. Matichak steht die Angst und die Verzweiflung förmlich ins Gesicht geschrieben. Dabei bin ich mir gar nicht mal sicher, was schlimmer ist, für die junge Mutter: Nicht zu wissen, wie, beziehungsweise ob ihrem Sprößling, der furchtbares Leid erfährt, überhaupt geholfen werden kann. Oder ist es die spätere Erkenntnis der Abhilfe, die Hoffnung suggeriert, aber keine ist und eine perfide, grenzensprengende Lösung nahelegt, welche keine Zukunft hat, was das Unausweichliche somit nur hinausschiebt. Den Weg dorthin muss sie alleine bestreiten, auch wenn es mit dem Polizisten Paul, dessen Rolle Emile Hirsch solide ausfüllt, einen Schutzengel gibt, der wahrscheinlich alles für sie tun würde, doch würde er auch grausame Kapitalverbrechen decken? Oder würde er den Pflichten seines Jobs nachgehen? Das sind alles Fragen, die Kavanagh auch dem Publikum mit seinem komplexen Handlungsaufbau indirekt stellt, was Son irgendwie auch einzigartig erscheinen lässt.
Denn strukturell bietet Son viel mehr als nur die beschriebene Ausgangslage: Die Verknüpfung mit der mystischen Vorgeschichte Lauras und dem Satanistenkult sorgen für weitere offene Fragen, deren Antworten Kavanagh in die Hände des Interpretationsspielraums seiner Zuschauer legt, was so gesehen als genialer Schachzug zu werten ist. Waren die Geisterwesen tatsächlich im Kinderzimmer? Fantasiert Laura nur? Findet ihre Tragödie in Wahrheit in ihrem Kopf statt und bildet sie sich das alles nur ein? Ist der Junge nun krank oder ist er von einem teuflischen Dämon besessen? Überraschende Wendungen und die offene Erzählstruktur generieren reichhaltig Suspense und bringen das Geschehen an den Rand von unfassbarem Wahnsinn, Okkultismus und Tabubrüchen. Die Kehrseite von der Medaille ist allerdings, dass sich Kavanagh mit der propagierten, finalen, unvorhersehbaren und meiner Meinung nach auch aus der Luft gegriffenen Auflösung der Geschichte selbst ein Bein gestellt hat, so dass dieses Ende für mich nicht mehr stimmig wirkt. Manchmal ist ein bisschen weniger doch deutlich mehr. Schade, denn bis dahin war Son auf dem besten Weg zur Höchstwertung, so haben wir es "nur" mit einem guten Streifen zu tun, aber das ist ja auch schon mal aller Ehren wert.
Standesgemäß setzt Son neben der dunklen Bilder auf plötzliche Jumpscares, um dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Was vielleicht etwas genreunüblich ist, sind die vereinzelten, blutigen, deftigen Splattermomente, wenn der Ertrag aus puren Gewaltausbrüchen der armen Mutter und dem verzweifelten Bub kurzeitige Linderung versprechen, ehe die Todesspirale wieder von vorne beginnt und sie immer weiter in den Abgrund hineingezogen werden, aus welchem es kein Entrinnen zu geben scheint. Die beeindruckenden Effekte sind technisch erstklassig mit einer Mischung aus "handmade" und Computerunterstützung umgesetzt. Sie verleihen der von Haus aus verstörenden Thematik enorme Intensität und einen morbiden Beigeschmack. Trotzdem wurden die Brutalitäten nie selbstzweckhaft und ausufernd ausgeschlachtet, sondern dienen dem eindeutigen Handlungsfortschritt bzw. der Unterstreichung von Tragik und Grausamkeit, so dass die Gorehounds auf dieser Welt, die nur auf pure Gewaltexzesse scharf sind, eventuell mit Son nicht ganz glücklich werden. Die 18er Freigabe der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft ist jedoch in Anbetracht von Inhalt, von Wirkung und von der graphischen Zeigfreudigkeit absolut im Bereich des Angemessenen.
In der Fachpresse und auf den hießigen Bewertunsportalen erntete Son fast durchgehend nur positive Resonanzen. Bei Rotten Tomatoes gab es eine Zustimmungsrate von 76%, während der irische Streifen auch zahlreiche Auszeichnungen gewinnen konnte wie beispielsweise den Titel "Bester Film" auf dem Dublin International Film Fest 2021 oder auch den silbernen Raben in der Kategorie Internationaler Wettbewerb beim Brussels International Fantastic Film Festival 2021. Wer Son gesehen hat, wird sich über diese Reaktionen wahrscheinlich auch nicht wundern: Der Film bietet fesselnde Unterhaltung von der ersten bis zur letzten Minute mit glänzenden Schauspielern und aufwühlender Grundthematik, die einem den Boden unter den Füssen wegzieht, auch wenn der Ausgang dieses beeindruckenden Werkes nicht ganz optimal ausgefallen ist. MovieStar Wertung: 8 von 10 Punkte.
8/10