Was passiert eigentlich, wenn man den typischen 70er Jahre Softporno Schmuddelfilm mit einem klassischen Slasher, verruchten Backwood Elementen, etwas Grindhouse und einem gesellschaftlichen Tabuthema kreuzt? Die Antwort liefert der von mir kürzlich gesichtete, amerikanische, in Neuseeland gedrehte Independent Streifen X (2022), der seine unterschiedlichen Inspirationsquellen wie The Texas Chainsaw-Massacre (1974), Psycho (1960) oder Alligator (1980) alles andere als verleugnen möchte, außerdem lassen sich auch auf Grund des hohen Erotikanteils Einflüsse von Pornofilmen wie Blue Movie (1969) und Debbie Does Dallas (1978) ausfindig machen. X braucht etwas, um in die Gänge zu kommen. Die zweite Hälfte hat es aber mit ihrer Entwicklung und ein paar kurzen, aber knackigen Gewaltspitzen in sich, so dass der Genrefreund sich eigentlich nicht beschweren kann.
X ist eine wahrhaftige "One Man Show" von Ti West, der nach The Roost - Angriff der Fledermäuse (2005), The House of the Devil (2009), Cabin Fever 2 (2009), The Inkeepers (2011), Das Sakrament (2013) und In A Valley of Violence (2016) mit X seinen siebten Horrorfilm abliefert. West produzierte den Streifen, er übernahm die komplette Regie und er schrieb auch das Skript. Gleich im Anschluss drehte er auch das offizielle Prequel Pearl, welches die Jugend der in X alten, gleichnamigen Frau thematisiert. X selber handelt von der jungen, hübschen Maxine (Mia Goth) die als angehender Filmstar mit einer Gruppe junger Männer im Texas des Jahres 1979 auf einer einsamen, im Niemandsland befindlichen, kleinen Farm einen Pornofilm drehen möchte, um endlich groß raus zu kommen. Als das alte introvertierte Farmerpärchen Howard (Stephen Ure) und Pearl (Mia Goth) das Treiben ihrer Gäste bemerkt, finden sich die jungen Leute ganz schnell in einem Kampf auf Leben und Tod wieder...
Oberflächlich betrachtet kann man X in der ersten Filmhälfte Behäbigkeit und Langatmigkeit vorwerfen, da Ti West, so wie er es eigentlich schon immer gerne fabriziert hat, auf einen behutsamen Aufbau mit Slowburner Effekt setzt. Die Charaktere werden ruhig und unaufgeregt mit zielführenden Dialogen vorgestellt, so dass dem Publikum die Wünsche, die Sehnsüchte und die teilweise naive Unbekümmertheit der Filmfreunde vor Augen geführt wird. In ihrem jugendlichen Leichtsinn erhoffen sie sich durch Freizügigkeit, Sex und nackte Haut den Aufstieg zu Ruhm, Geld und Erfolg. West setzt konzeptionell auf weichgezeichnete, schwüle Erotik, die unter anderem auch auf Mia Goths Attraktivität und ihre verführerische Ausstrahlung spekuliert und den Unterhaltungswert im ausreichenden Notenbereich manifestiert. Andererseits arbeitet er aber auch mit grobkörnigen Aufnahmen, gedimmter Belichtung und mit der ländlichen Umgebung, um den Geist der späten 70er Jahre optisch wiederzubeleben und auf den im weiteren Handlungsfortschritt wichtig werdenden Kontrast zwischen jung und alt hinzudeuten, der im Laufe des Filmes offensichtlich wird und den anfangs relativ niedrigen Suspense-Anteil langsam erhöht, sofern der Zuschauer zwischen den Zeilen lesen kann, Geduld aufbringt und für derartige Hinweise empfänglich ist.
Denn hier spricht West die Vor- und Nachteile des Alterns, was gesellschaftlich gerne totgeschwiegen wird, schonungslos an und kreiert dabei ein verstörendes, wenngleich auch nachvollziehbares Motiv für die folgenden Bluttaten, die kurz und knackig, aber auch ausufernd-bestialisch daher kommen, während für Fans leicht identifizierbare Hommagen an Klassiker wie Psycho (im Sumpf versenkter Wagen) oder The Shining (eine mit einer Axt durchgeschlagene Tür) integriert wurden. Die FSK 16 Freigabe geht jedoch trotz der ein oder anderen Gewaltspitze absolut in Ordnung. Die alte Pearl, die dank famoser Maskentechnik ebenfalls von Mia Goth gespielt wird, wünscht sich trotz grauer Haare und ihrer sichtbaren Falten begehrt zu werden, was ihr Mann auch auf Grund seiner angeschlagenen Gesundheit ihr nicht mehr bieten kann. Als die jungen Hühner poppen bis der Arzt kommt, erinnert sie sich wehmütig an ihre eigene Jugend zurück, in der sie es selbst Krachen ließ und ein gefeierter Star war. Die Ignoranz und die Überheblichkeit der ungebetenen Gäste erwecken den Hass in ihr und bringen das Fass zum Überlaufen, während X sich auf die spannende, nachwirkende und im Gedächtnis bleibende Zielgerade zu bewegt und ein rückwirkend aufgedeckter Zusammenhang der beiden Hauptfiguren die mittlerweile recht spannende und fesselnde Geschichte abrundet.
Übrigens, die Entscheidung, Maxine und Pearl mit der gleichen Schauspielerin zu besetzten, war so gesehen auch ein genialer Schachzug, der die Vergänglichkeit von körperlicher Schönheit und die ähnlichen Triebe auch symbolisch in einer Person untermauert. Mia Goth überzeugt jedenfalls in ihrer Doppelrolle. Sie verkörpert die optisch grundverschiedenen, aber von ihrem Wesen her ähnlichen Frauen überzeugend und ihre markante Mimik mit ihrem charismatischen Blick unterstreicht den titelgebenden X Faktor. Interessant dabei sind auch die unterschiedlichen, aber dennoch äquivalenten Befindlichkeiten, die in einem in sich schlüssigen Kreis münden: Was die eine in ihrer Jugend an Glanz & Glamour hatte, will die andere unbedingt erreichen und auf die hemmungslose Sexualität, welche die junge Frau in vollen Zügen genießen kann, ist dafür die Rentnerin neidisch, was Goth absolut einleuchtend spielt. Einen bleibenden Eindruck hinterlässt auch Stephen Ure, der den gebrechlichen alten Greis, der seiner Gattin einerseits den Rücken stärkt, andererseits aber altersbedingt nicht mehr seinen Mann stehen kann, ebenfalls authentisch darstellt. Die Besetzung der weiteren Filmcrew Mitglieder ist meiner Meinung nach nicht ganz so geglückt: Trotz bekannter Gesichter wie Jenna Ortega (Scream; Studio 666), Martin Henderson (The Ring) oder Brittany Snow (Prom Night) kommen ihre mittelprächtigen Performances über bestenfalls solides Schauspiel nicht hinaus, was den Sympathiewert der dargestellten Figuren bei mir dementsprechend gering erscheinen lässt.
Wirtschaftlich konnte der 1 Millionen Dollar teure X immerhin knapp 15 Millionen Dollar an den weltweiten Kinokassen einspielen, was für so eine kleine Produktion ein ordentliches Ergebnis ist. X ist der Beweis dafür, dass sich auch langsam entwickelnde Horrorkost zu einem packenden Erlebnis entwickeln kann, wenn die Steigerungen stimmen und die Hintergründe der Geschichte den Zuschauer in ihren Bann zieht. Klar hätte man auch frühere Schockmomente oder Variationen einbauen können, die Längen sind aber verschmerzbar und Mia Goth liefert eine sensationelle Leistung ab. Im zweiten Abschnitt werden mit der betagten Psycho-Biddy Killerin Slasher Ansprüche durch eine überschaubare Menge an blutigen Kills, die auch noch hervorragend und vor allem handgemacht getrickst sind, zufriedengestellt. MovieStar Wertung: 7 von 10 Punkte.
7/10