Mit spannenden und spektakulären Actionreißern wie Olympus Has Fallen (2013), London Has Fallen (2016) oder Angel Has Fallen (2019) bewies der 300 Star Gerard Butler nachhaltig, dass er auch auf Grund seiner einprägsamen Mimik und seines Charismas das Zeugs zum Actionhelden hat. Das Publikum liebt Schauspieler, mit denen es sich identifizieren kann. Dass sich seine markante Mimik auch gut in einem Entführungskrimi macht, zeigt Butler in dem im Juli 2022 in den deutschen Kinos gestarteten Film Last Seen Alive aká Chase, in dem der sympathische Schotte seine auf einmal verschwundene Ehefrau suchen muss. Auf den Pfaden von Streifen wie Spurlos Verschwunden oder Breakdown entsteht Spannung über die volle Laufzeit, auch wenn nach der Auflösung eigentlich nicht mehr viel übrig bleibt, was eine zweite Sichtung rechtfertigen könnte, weil Chase insgesamt betrachtet kaum Höhepunkte liefert.
Der ursprüngliche Arbeitstitel lautete Chase, bevor der Streifen in Last Seen Alive unbenannt wurde und so seine Erstveröffentlichung in Amerika erhielt. Bei uns in Deutschland läuft der Film allerdings unter dem Namen Chase. Als Regisseur fungierte Brain Goodman (Black Butterfly), während Marc Friedmann die Geschichte schrieb. Obwohl es bei weitem schlechtere Unterhaltung gibt, ist Chase mit einem weltweiten Kinoeinspiel von 5,9 Millionen Dollar derbe gefloppt und wurde von der Fachpresse größtenteils verrissen. Anstoß zur Kritik gab vor allem der innovationsarme Plot, der sich bei den oben genannten Inspirationsquellen nicht nur einmal bedient hat, ohne sonderlich viel Eigenständiges hinzuzufügen, worauf sich viele Kritiker förmlich eingeschossen haben. Dass alles ändert aber nichts daran, dass Butler wieder einmal eine starke Leistung abliefert und der Film für sich betrachtet, zumindest bei der Erstsichtung, nicht langweilig werdende Thriller Unterhaltung parat hat.
Zum Anfang behilft sich auch Brain Goodman der mittlerweile oft verwendeten "X Stunden zu vor" Formel: Wir sehen den dunkelhäutigen Polizisten Dedektiv Paterson (Russel Hornsby), der einen jammernden Verbrecher nach dem Verbleib des Entführungsopfers fragt, ehe in stündlichen Etappen die vorangegangene Entwicklung ausführlich nachgeschoben wird. Hilfreich für die Klarstellung der Fronten und für den Sympathieaufbau ist, dass die Hauptfigur Will Spann (Gerard Butler) kurz als Mann von nebenan vorgestellt wird, der trotz Eheprobleme und trotz des Auszeitsgesuchs seiner Frau, an die Zukunft der Beziehung glaubt. In der Schlüsselszene des Films verschwindet Lisa (Jaimie Alexander) an helligsten Tag an einer Tankstelle, während ihr Mann seinen Wagen volltankt. Goodmans Inszenierungsstil ist eher bodenständig als spektakulär ausgerichtet, auf die Dramatisierung durch nicht unbedingt notwendige Actionszenen wird verzichtet und Spannung wird damit erzeugt, dass alle wichtigen Einzelheiten erst nach und nach aufgedeckt werden, wenn Will und Dedektiv Paterson versuchen, den Aufenthaltsort der jungen Frau herauszubekommen.
Und genau hier kann Chase punkten: Ein fast wahnsinnig vor Sorge werdender Ehemann klammert sich an jeden Strohhalm. Er versucht die Hoffnung aufrecht zu erhalten, obwohl alles danach aussieht, dass er mit dem Schlimmsten rechnen muss. Butler spielt die Verzweiflung, die Zuversicht und die Wut seines Charakters absolut glaubwürdig, so dass das Publikum auch in der Lage ist, sich in ihn hineinzuversetzten. Was würde man an seiner Stelle tun? Wie würde man selbst in so einer Situation reagieren? Wo ist Lisa hingekommen? Lebt sie noch? Wurde sie gegen ihren willen entführt, oder ist sie vielleicht wegen der kriselnden Ehe einfach nur abgehauen? Die Neugier auf die Antwort dieser Fragen und Butlers authentisches Schauspiel sorgen dafür, dass die Geschichte ohne Leerlauf fesseln kann, auch wenn die Entwicklung bzw. die Auflösung der kriminellen Hintergrundstory trotz sichtlichen Verschleierungsbemühen insgesamt voraussehbar bleibt und Thriller erfahrene Zuschauer wohl kaum überrascht sein dürften. Auch zum Finale hin bleibt Chase dem angeschlagenen Ton treu: Action findet wenn dann nur zweckdienlich und mit angezogener Handbremse statt, so dass Chase auf der einen Seite relativ realitätsnah wirkt, auf der anderen Seite fehlen aber auch die Hingucker, um eine zweite oder dritte Begegnung zu rechtfertigen, wenn man den Ausgang einmal kennt.
Neben Butlers bereits erwähnter gelungenen Performance weiß auch Russel Hornsby, den viele aus den Serien Gideon's Crossing und Lincoln Heights kennen dürften, als eifriger Polizeibeamter zu überzeugen. Jaimie Alexander, welche die attraktive Filmehefrau Lisa spielt, legt zwar einen grundsoliden Auftritt hin, im Vergleich zu Butlers emotionaler Darbietung bleibt sie aber blass. Apropos blass: Das gilt auch für sämtliche Antagonisten, die zum einen vom Drehbuch allesamt relativ eindimensional und einfältig vorgegeben worden sind, zum anderen fehlt der Geschichte auch ein erinnerungswürdiger Hauptschurke, der hinter der ganzen Aktion steckt. Ethan Embry jedenfalls enttäuscht in dieser Hinsicht auf ganzer Linie. Cindy Hogan und Bruce Altman sind als Will's Schwiegereltern zu sehen, die aus ihrer überschaubaren Bildschirmzeit das beste machen und ihre Rollen ordentlich verkörpern.
Chase ist also am Ende des Tages ein leicht überdurchschnittlicher Thriller geworden, der in summa summarum befriedigend unterhält, auch wenn es in fast allen relevanten Bereichen Verbesserungspotenzial gibt. Schauspielerisch lebt die Produktion von Butlers beeindruckender Strahlkraft, die farblosen Bösewichte sind aber nicht in der Lage, ein angemessenes Gegengewicht zu erzeugen. Das Verhältnis zwischen angestrebtem Realismus und unterhaltender Action stimmt auch nicht immer, hier hätte man die Nuancen besser abstimmen können, vielleicht sogar müssen. MovieStar Wertung: 6 von 10 Punkte.
6/10