"Über den Dächern von Nizza?"
"Ja, Über den Dächern von Nizza."
Ich selbst nenne es nur zu gerne das Über-den-Dächern-von-Nizza-Phänomen oder auch das To-catch-a-thief-Paradoxon. Es passiert mir zwar mittlerweile seltener, doch bekomme ich in Gesellschaft ungewollt Schrott vor die Augen oder fühle mich unbehaglich durch andere in einen schlimm Film gezogen, denke ich laut über dieses prunkvolle Werk von Alfred Hitchcock als Ausweichmöglichkeit nach - und greife selbstredend nicht selten darauf zurück. Das ging schon so weit, dass ich mich inmitten eines Abends abwendend verabschieden musste, denn Zeit ist kostbar und kommt nicht wieder. Dabei ist Über den Dächern von Nizza nicht unbedingt des Meisters außergewöhnlichster, spannendster oder aufregendster Film, aber gewiss sein schönstes Werk. Ich habe keinen Hitch, der ja immer eine Reise wert ist, öfter gesehen, als diesen. Der in prächtigen VistaVision-Bildern und an Originalschauplätzen der Côte d’Azur gedrehte Krimi besticht durchweg mit grandiosen Aufnahmen der azurblauen Küste. Über den Dächern von Nizza ist in jeder Szene und jedem Augenblick, sieht man mal von marginalen Rückprojektionen hier und da ab, ein absoluter Augenschmaus, dessen Blu-Ray von 2012 für mich zu den am besten gemasterten HD-Scheiben zählt, die mir bisher untergekommen sind. Die abwechslungsreiche wie sorgfältige Finesse der Bildkompositionen ist atemberaubend und der Oscar, den Kameramann Robert Burks hierfür verliehen bekam, völlig gerechtfertigt. Nach etwa 23 Minuten flüchtet der einstige Meisterdieb John Robie (Cary Grant) auf einen gut besuchten Marktplatz voller Blumen. In der malerischen Kulisse ein in allen Facetten farbenfroher, über alle Maßen knackscharfer und perfekter Hochgenuss - ich bin jedes Mal wieder gebannt, wie gut das alles nach über fünfundsechzig Jahren aussieht. Ein Meer aus Blumen. Diese Highlights ziehen sich durch den gesamten Film und die visuelle Brillanz und ein gewisser Wow-Faktor lassen jedes digital gefilmte Bild weit hinter sich zurück. Mit jeder verstrichenen Filmminute steigt die Lust dort einen Urlaub zu buchen enorm. Ein im besten Sinne makelloses Bild, dessen Korn harmonischer kaum sein könnte.
"Ach, ist das herrlich! Es gibt überhaupt nichts Schöneres auf dieser Welt. Sehen Sie doch mal diese Farben, das Meer und der Himmel und die lustigen bunten Häuser da unten. Es muss doch ein Genuss für Sie sein, auf diesen Dächern herum zu klettern."
Doch Hitchcock verkommt hier, trotz seiner einmalig gefassten Kulissen und den strahlenden Sternchen vor der Kamera, nicht zum inhaltsleeren Schönfilmer. Dafür ist eine filmische Intelligenz zu hoch. Es mag sein, dass das ziemlich unterhaltsame Skript über die auf den Punkt andauernde Spieldauer hinweg nie die famose Klasse der gefilmten Bilder erreicht - was schlicht unmöglich ist -, doch im Ganzen ist Über den Dächern von Nizza ein echter Hitchcock. Das fängt mit dem charmanten wie witzigen Cameo Hitchcocks am Anfang des Films an, schraubt sich über das oftmals schnippische und spitzzüngige Diebesrätsel unter den Protagonisten gaunerisch in die Höhe und endet für den Regisseur typisch verspielt, wenn auch angenehm zahm, sympatisch und angenehm einfältig. Wie John Robie, der zu Unrecht des Diebstahls verdächtigt wird, versucht seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, macht immer wieder Laune, woran die beiden Hauptdarsteller Grace Kelly und Cary Grant großen Anteil haben. Cary Grant, der ewige Gentlemen und niemals um eine treffende Bemerkung verlegene Star, ein Lieblingsschauspieler Hitchcocks, gibt hier eine seiner besten Darbietungen. Grant ist ein Original und die Chemie zwischen ihm und Grace Kelly ist zunächst abweisend knisternd, doch im Gesamten hinreißend schön. Die vielen köstlichen Dialoge, die halsbrecherische Flucht im Auto und dieser sinnliche und nicht enden wollende Kuss zu Beginn, der elegante Sinneswandel hin zu dem alternden Dieb und der betörende Maskenball am Schluss - in To catch a thief stecken doppelte Böden noch und nöcher. Schlagabtausch um Schlagabtausch eine zitierwürdige Zusammenkunft unter der Regie Alfred Hitchcocks und ein Film, welcher seine volle Blüte erst dann erreicht, dringt man durch die plastisch opulente Fassade.
"Trinken benebelt die Sinne."
"Ja, und wenn ich Glück habe, auch mein Gehör."
Ich habe das Gefühl, Über den Dächern von Nizza steht in der Gunst der Hitchcock-Fans immer etwas hinten an. Dieser humorvolle Film, der in der stärksten Schaffensphase des Master of Suspense entstand, hat nicht die Raffinesse von Vertigo oder Rear Window, nicht den tiefschürfenden Schockeffekt von Psycho, die ausweglose Abgründigkeit von Marnie oder das rastlose Tempo von Der unsichtbare Dritte, doch dieses ansehnlich entspannte, in mehrfacher Hinsicht leichtfüßige und genüssliche Kunstwerk bildet einen so galanten Entwurf ohne sich seiner rätselhaften Seele zu verkaufen - fast scheint es, als wollte Hitch mit dieser seichten und meditativ angehauchten Perle durchatmen, so spannend die letzte viertel Stunde wieder einmal geraten ist.
"Einen Juwelendieb zu fangen, ist wahnsinnig aufregend, wie ein, als wenn man ein...
"...als wenn man ein heißes Bad nimmt, hä."
Das Phänomen, das Paradoxon. Es ist völlig gleich, wer welchen Schotter anbringt oder verzapft - und die Ausbeute kann groß werden, passt man nicht auf. Zeit ist kostbar und kommt nicht wieder. Dieser Film von Hitchcock lässt die Zeit im Gegenzug auf die angenehmste Weise still stehen und ist stets ein willkommener Rettungsanker.
8/10