Gestaltenwandlung bzw. die Transformation des Menschen zum Monstrum (oder möglicherweise auch zu einem "menschenähnlichen Wesen", um in der Sprache des deutschen Gesetzgebers zu bleiben) und die damit einhergenden Ängste und Paranoia (nicht nur die der BPjM und so mancher Amtsgerichte) nimmt seit jeher eine gewichtige Position in der (Horror-)Filmhistorie ein. Sei es die Verwandlung von Dr. Jekyll in Mr. Hyde, Don Siegel´s "Die Dämonischen", die "Katzenmenschen", bis hin zu unzähligen Werwolf-, Vampir- und Zombiefilmen - die Liste ist schier endlos.
Ein eher unbekannter und recht unscheinbarer, gleichwohl jedoch sehr interessanter Vertreter dieser filmischen Spezies ist der jugoslawische Film "Der Rattengott" (Izbavitelj) aus dem Jahr 1976, in dem es nicht bloß um die Verwandlung einzelner Menschen geht, sondern um die Unterwanderung, Gleichschaltung und Entmenschlichung der Gesellschaft. Verwantwortlich sind hier konkret Ratten, die sich nach und nach in Menschen bzw. Menschen in Rattenwesen verwandeln, wobei sich auch Doppelgänger bilden und nicht auf Anhieb erkennbar ist, wer noch Mensch geblieben und wer bereits innerlich zur Ratte geworden ist. Der arbeitslose Schriftsteller Ivan Gajski (Ivica Vidovic) kommt dieser Verschwörung durch Zufall auf die Spur und versucht fortan zusammen mit einem Professor und dessen Tochter Sonja (Marjana Majurec) ein Gegenmittel zu finden und den "Rattengott" als Anführer der Verschwörung zu beseitigen.
Der Film basiert auf der Novelle "Der Rattenfänger" von dem russischen Schriftsteller Alexander Grin. Regie führte Krsto Papic, und er hat meiner Meinung nach ein sehr gelungenes Werk geschaffen, was den Zuschauer von Anfang an gefangen nimmt. Bereits der schön gestaltete Vorspann, bestehend aus (zumindest in der deutschen Version, der kroatische Vorspann ist etwas anders gestaltet) schauerlichen, ausschließlich gezeichneten Bildern und begleitet von sehr reduzierten, aber doch unheimlichen Musikfragmenten, lässt erahnen, was den Zuschauer erwartet: "Der Rattengott" bietet sich langsam heranschleichenden, atmosphärischen Grusel. Folglich lässt sich Krsto Papic viel Zeit, um den Zuschauer zunächst in die trostlose Lage des Protagonisten Ivan Gajski einzuführen, was ihm auch außerordentlich eindrücklich gelingt.
"Der Rattengott" spielt in der Zeit der Weltwirtschaftskrise nach dem 1. Weltkrieg, von der auch Ivan Gajski akut betroffen ist. Er ist arbeitslos, kann seine Miete nicht mehr bezahlen und verliert seine Wohnung. Sein Essen muss er sich fortan auf der Straße bei der öffentlichen Essensausgabe holen, und seine Versuche, durch Bücherverkauf an etwas Geld zu kommen, scheitern kläglich. Hier bietet sich ihm auch erstmals im Film der Anblick einer Ratte, und ihm wird bewusst, dass diese sich im Stadtbild mehr und mehr ausbreiten; wie sehr er damit recht hat, kann er hier allerdings noch nicht erahnen. Als er in der leerstehenden örtlichen Zentralbank Unterschlupf vor der Kälte und eine Übernachtungsmöglichkeit findet, wird er Zeuge einer zügellosen Orgie von Rattenmenschen und erfährt von deren Plan, die Weltherrschaft zu erobern.
"Der Rattengott" ist ein recht sperriger, ruhiger und unspektakulärer, aber auch ungewöhnlicher, metaphernreicher Film mit fast schon kafkaesken Elementen, der mir jedoch gut gefällt, vielleicht gerade auch deshalb, weil er eine immer wieder aktuelle Thematik zum Inhalt hat. Der Film lässt sich als Parabel auf eine Bedrohung durch eine gleichgeschaltete Gesellschaft, Diktatur und Faschismus deuten, was sich nicht zuletzt auch in den "Uniformen" einzelner Rattenmenschen bildlich ersehen lässt. Es wird auch sicherlich kein Zufall sein, dass das Bankett der erwähnten Orgie, welche Ivan Gajski heimlich von seiner Empore aus beobachtet, wie ein Teil eines Hakenkreuzes angeordnet ist. Wer will, kann aus dem Film sogar eine recht frühe Warnung vor Turbokapitalismus erkennen, nicht von ungefähr feiern die Rattenmenschen ihre Orgie in der Zentralbank. Dass es ausgerechnet die Ratten sind, die das Böse und Schlechte im Menschen symbolisieren und die die Weltherrschaft übernehmen wollen, ist durchaus naheliegend, und mal ehrlich, wer von uns hat noch nie einen seiner Mitmenschen, als Ratte empfunden oder gar so bezeichnet?
Das Lexikon des Internationalen Films führt aus, dass "Der Rattengott" "die Zutaten des Genres mit seltenem Geschick" nutze. "In die Story eingeflochten sind politische Reflexionen über den Kampf zwischen Gut und Böse und das Wesen des Faschismus, der in Krisenzeiten erneut hervorzubrechen droht."
Regisseur Krsto Papic gelingt es, eine ausgesprochen dichte Atmosphäre aufzubauen und die sich steigernde Paranoia, Trostlosigkeit und Beklemmung auf den Zuschauer zu übetragen. "Der Rattengott" punktet mit eindringlichen Bildern; hier ist die wohltuend ruhige Kameraführung von Ivica Rajkovic lobend zu erwähnen. Passend dazu ist die musikalische Untermalung von Brane Zivkovic, die sehr reduziert, aber effektiv und jederzeit passend ist. Die Schauspieler machen für mein Empfinden einen guten Job, allen voran ist der sympathisch aufspielende Ivica Vidovic zu nennen; er sorgt dafür, dass man mit dem von ihm verkörperten Ivan Gajski mitleidet. Generell gilt: die Darstellungen passen sich der ruhigen Gangart des Filmes an, von Overacting kann keine Rede sein. Auch das recht offen gehaltene, etwas surreale Ende, was bereits nach 75 Minuten zu verzeichnen ist, weiß (mir zumindest) zu gefallen.
"Der Rattengott" war 1977 der jugoslawische Beitrag beim Rennen und den Oscar als besten ausländischen Film, jedoch ohne diesen zu gewinnen. Der Film punktet durch Atmosphäre, Schauspieler und Thematik, wirkt jedoch an einigen Stellen durch recht holprige Szenenübergänge etwas fragmentarisch und ist insgesamt sicherlich kein Film, der bedenkenlos jedem zu empfehlen ist. Der Film weist eine sehr langsame Erzählstruktur auf, und Effekte gibt es nahezu keine, sieht man von den recht gelungenen Masken der Rattenmenschen ab. Die FSK-18-Einstufung ist natürlich Quatsch und sollte somit nicht als alleinige Grundlage für das Ausloten des eigenen Interesses an diesem Film ausschlaggebend sein.
"Der Rattengott" wurde seither überwiegend auf limitierten Mediabooks veröffentlich. Ein solches Exemplar bildet auch die Grundlage für meine Review. Durch die kürzlich Ende September erfolgte (Wieder-)Veröffentlichung des Films auf DVD, bietet sich jetzt wieder die Möglichkeit, diesen ungwöhnlichen, raren Film (vor vielen Jahren lief der Film zumindest dankenswerterweise im ZDF, auch aus dem deutschen Filmabspann ist "im Auftrag des ZDF" zu entnehmen) für sicherlich kleineres Geld erwerben zu können. Für alle Interessierten kann ich eine mit den genannten o.g. Einschränkungen/Hinweisen versehene, vorsichtige Empfehlung aussprechen. "Der Rattengott" ist ein zwar etwas verschrobener und ungewöhnlicher Film; er ist jedoch auf Grund seiner wohl ewig aktuellen Thematik und Machart aus meiner Sicht es auf jeden Fall wert, wiederentdeckt zu werden.
8/10