Nachdem ich den Film vor zwei Tagen im Kino sehen durfte (ich halte mich gerade im japanischen Osaka auf), möchte ich der Schnittberichte-Community meine Eindrücke nicht vorenthalten. Angemerkt sei allerdings, daß ich den Film natürlich ohne Untertitel oder sonstige Hilfe sehen mußte und daher bei weitem nicht alles verstehen konnte. Der Film ist nämlich enorm dialoglastig, und japanische Diskussionen über Politik, Biologie und militärische Operationen übersteigen meine derzeit mittelmäßigen Sprachkenntnisse bei weitem. Die gute Nachricht ist aber: Dieser Umstand hat das Filmerlebnis kaum getrübt.
Shin Godzilla ist, wie in westlichen Fankreisen mittlerweile bekannt sein dürfte, ein komplett eigenständiger Film, der keinen direkten Bezug auf vorangegangene Werke nimmt. Dies ermöglichte es dem Team um die Regisseure Hideaki Anno und Shinji Higuchi, einige Neuerungen insbesondere im Bezug auf Godzillas Erscheinung und Fähigkeiten vorzunehmen, die sonst kaum möglich gewesen wären: Das Monster taucht nicht etwa bereits in voller Größe aus dem Meer auf, sondern macht zuerst einige (höchst bizarre) Entwicklungsstufen durch. Zu Beginn des Film handelt es sich um eine Art Rumpf mit Dinosaurierkopf und Glubschaugen, der mit seinen Stummelbeinchen durch Tokyo kriecht und eine Spur der Zerstörung hinterläßt. Erst später lernt Godzilla, aufrecht zu gehen, und nach einem vorläufigen Abtauchen schreitet das voll entwickelte Monster im zweiten Drittel des Films von Kamakura aus erneut in Richtung Hauptstadt.
Der Film behandelt Godzillas Biologie zudem sehr ausführlich, leider verstand ich davon nicht wahnsinnig viel. Er wird als eine "perfekte Lebensform" beschrieben, Radioaktivität spielt natürlich auch hier eine große Rolle und herkömmliche Waffen können ihm nichts anhaben (wie in vielen Szenen eindrücklich gezeigt wird). Er kann sich asexuell fortpflanzen, lebt ausschließlich von Luft und Wasser und benutzt seine Rückenflossen als eine Art Kühlungssystem. Übrigens: Seine Angriffe insbesondere in der zweiten Hälfte gehören zum Spektakulärsten, was ich je im Kino gesehen habe! Audiovisuell hervorragend in Szene gesetzt, hat dieser Godzilla eine Zerstörungskraft, wie man sie noch nie zuvor erleben durfte. Fans im Westen, die offen für Neues sind, dürfen jedenfalls gespannt sein!
Trotz alledem handelt es sich bei Shin Godzilla in erster Linie um eine politische Satire bzw. Groteske, die sehr stark Japan-zentriert ist und den Zugang im Ausland ohne das notwendige Hintergrundwissen über Politik und Regierung doch ziemlich erschweren dürfte. Es geht um die Frage, wie man im Angesicht einer solchen Katastrophe reagieren würde, und gut 70% des Films bestehen aus hitzigen Dialogszenen. Im Zentrum steht dabei der Abgeordnete/Kabinettssekretär Yaguchi, der bereits zu Beginn von der Existenz eines Monsters überzeugt ist und dem die Angelegenheit später über den Kopf wächst, insbesondere, als der Premierminister verunglückt und plötzlich Japans Unabhängigkeit auf dem Spiel steht. Ich freue mich wirklich auf eine untertitelte Fassung des Films, um das alles lückenlos verstehen zu können.
Hideaki Anno, der hauptsächlich für seine Anime-/Filmserie Shin Seiki Evangelion bekannt sein dürfte, baut im Verlauf des Films viele kleine visuelle und musikalische Anspielungen auf ältere Godzilla-Filme sowie seine eigenen Werke ein, so gibt es gleich zweimal ein Musikstück aus Evangelion zu hören, und die klassischen Godzilla-Stücke fehlen natürlich auch nicht. Godzillas Entwicklungsprozeß und Zerstörungskraft erinnert sicher nicht zufällig an die "Engel" aus Evangelion, und vertraute Namen wie Maki Goro (Protagonist von Godzillas Sohn und Godzilla 1984) kommen ebenfalls vor. Zudem erinnert die Schriftart der japanischen Untertitel (handgeschrieben?) bei einigen englischen Dialogszenen stark an diejenige, die es bei älteren Filmen wie Godzilla 1984 zu sehen gab.
Für mich ist Shin Godzilla mit seiner neuartigen, verspielten und nichts desto trotz düsterer Herangehensweise an das Genre der Kaiju-eiga einer der innovativsten Filme der letzten Jahre und genau der Film, auf den ich seit Final Wars (mit dem er weniger nicht zu tun haben könnte) gewartet habe. Der Film ist unterhaltsam, intelligent, unglaublich zynisch und dabei audiovisuell hervorragend umgesetzt. Die Effekte basieren zum Großteil auf CGI, sind allerdings die mit Abstand besten Computereffekte, die man bislang in einem japanischen Film sehen konnte. Insbesondere die Zerstörungsszenen sind der helle Wahnsinn! Die Schauspieler um Hauptdarsteller Hiroki Hasegawa (Love & Peace) agieren alle hochmotiviert und tragen dazu bei, daß der Film zu keiner Minute langweilig wird, selbst wenn man teilweise kaum etwas versteht. Lediglich die süße Satomi Ishihara, die hier eine Amerikanerin japanischer Herkunft verkörpern soll, allerdings nur enorm gebrochenes und größtenteils unverständliches Englisch spricht, war vielleicht nicht die richtige Entscheidung, aber was soll's. Übrigens gibt es auch eine kleine Szene auf Deutsch, die mich ziemlich amüsiert hat, aber laßt euch selbst überraschen.
Zwei Wermutstropfen gibt es jedoch: Der Film dürfte dem gemeinen westlichen Publikum, das Machwerke wie den amerikanischen Godzilla (2014) für gelungene Filmkunst hält, nur schwer zugänglich sein. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, wie eine etwaige Fortsetzung, die ich mir wirklich wünsche (etwa mit King Ghidora?) aussehen könnte. Das Ende läßt zwar einiges offen und möglich erscheinen, allerdings wirkt Shin Godzilla insgesamt doch eher wie ein alleinstehender, in sich abgeschlossener Film. Ich hoffe jedenfalls, daß dem nicht so ist und Toho von nun an wieder weitere Filme produziert. Der Riesenerfolg in Japan spricht zum Glück dafür.
Der Film läuft derzeit in den japanischen Kinos; die Rechte für den deutschsprachigen Raum liegen nach meinem Wissen bei Splendid, die glücklicherweise dafür bekannt sind, mit Heimkino-Veröffentlichungen asiatischer Filme nicht allzu lange zu warten.
10/10