Tote Mädchen lügen nicht
Originaltitel: 13 Reasons Why
Herstellungsland: | USA (2017) |
Genre: | Drama, Mystery |
Alternativtitel: | Thirteen Reasons Why |
Bewertung unserer Besucher: |
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Note: 7,79 (19 Stimmen) Details |
Inhaltsangabe:
Nach dem verblüffenden Selbstmord einer Teenagerin kommt ein Mitschüler in den Besitz von Kassetten, die das Rätsel um ihren tragischen Entschluss lösen könnten. (Netflix)
Vorab: Da bereits ein Review dieser Serie auf schnittberichte existiert, möchte ich an dieser Stelle auch auf die gut geschriebene, sehr aussagekräftige Kritik von Kaiser Soze hinweisen! Danke!
Gewiss, es war anhand des enormen Presse-Traras verdammt schwer, nicht auf „Tote Mädchen lügen nicht“ (OT „13 Reasons Why“) aufmerksam zu werden. MoralhüterInnen, KüchenpsychologInnen und WichtigtuerInnen kamen scharenweise aus ihren Löchern gekrochen, um – natürlich medienwirksam – gegen die Netflix-Serie zu protestieren. Vom Nachahmungseffekt aufgrund des aktuell leider brisanten Inhalts war die Rede, von der dilettantischen Inszenierung heftiger psychischer Probleme – ja sogar mit den Begriffen „fatal“, „unzumutbar“ und „gefährlich“ wurde um sich geworfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein derartiger Aufschrei dem betreffenden Objekt mehr nutzt als schadet und die blökende Menge genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie im Sinn hat. Dabei ist „13 Reasons Why“ kein Phänomen, das über Nacht entstanden ist. In meinem heimischen Regal haben die Buchvorlage des US-Amerikaners Jay Ashton, plus das Hörbuch schon seit einiger Zeit ihren festen Platz inne; dementsprechend groß – und unabhängig vom gigantischen öffentlichen Rummel – war das Interesse an der filmischen Version. Und verdammt: Was haben die MacherInnen hier Großartiges geleistet?!
Dabei hört sich die vordergründige Geschichte recht simpel an. Nach dem Selbstmord der Schülerin Hannah Baker erhält ihr Klassenkamerad Clay Jensen ein Paket mit aufgenommenen Kassetten, auf denen Hannah ihre Lebens- und Leidensgeschichte dokumentiert. Jede Seite ist einer Person gewidmet, die auf dieser schmerzvollen Reise bis hin zum tragischen Ende eine zentrale Rolle spielte.
Man sollte sich nun nicht vom vermeintlichen Teenie-„Das-Leben-ist-so-scheiße“-Klischee ins Bockshorn jagen lassen. Und die Funktion einer gewissen Selena Gomez (Springbreakers, Getaway) als Produzentin muss ebenfalls keinerlei Sorgenfalten verursachen. Denn bereits handwerklich gesehen macht „13 Reasons Why“ beeindruckend Vieles richtig. Das Resultat/Ende/Finale ist von Anfang an bekannt und der Zuschauer soll nun erfahren, wie es dazu gekommen ist – d.h. wir beginnen mit dem Schluss und lernen peu á peu die Etappen kennen, die zu ihm führen. Wie Kaiser Soze richtig anmerkte, dürfen gerne Vergleiche zu einem gewissen Memento (2001) gezogen werden. Denn die Macher setzen diese Vorgehensweise mit der entsprechenden inszenatorischen Klasse um. Die Serie verfällt nie in Hektik oder Langatmigkeit, sondern baut ihr Storygerüst in einem hervorragenden Tempo auf. Jede Person erhält Raum zur Entfaltung, jede Entwicklung wird sensibel und tiefgründig genug erläutert.
Überdies gelingt die schwierige Gratwanderung zwischen jugendlicher Unbekümmertheit und dem zu jedem Zeitpunkt spürbaren, bierernsten Unterton. Was beispielsweise der „Scream“-Serie nie so ganz gelungen war, wird hier mit Bravour in die Tat umgesetzt. Die Teenies blödeln herum, nutzen die moderne Technik und reden untereinander im Slang des Zeitgeists – aber dies alles geschieht auf einem relativ „erwachsenen“ Wege, sodass sich sämtliche Ü20-Jahrgänge keine Sorgen machen müssen, die Figuren zu begreifen.
Mit einem simplen, aber ungemein effektiven Stilmittel hebt man die Qualität der Folgen zusätzlich an. So werden sämtliche Rückblenden in kräftigen, satten Farben dargestellt, während die Szenen in der Gegenwart und nach Hannahs Tod von trostloser, grau-kalter Natur sind. Optimistische Helligkeit zu Hannahs Lebzeiten, deprimierende Düsternis als Zeichen der Trauer – dieser Trick ist in der Film- und Serienwelt selbstverständlich keine Revolution mehr, aber er entfaltet seine Wirkung hierbei mit ungeheurer Vehemenz.
Der technische Aspekt stimmt folglich, aber auch Drehbuch und Regie stehen dem kaum nach. „13 Reasons Why“ spricht gleich mehrere hochbrisante Themen an und behandelt sie mit der angebrachten Ruhe und Sensibilität, traut sich gleichzeitig aber auch, den Finger in die Wunde zu legen. Genannt sei an dieser Stelle die vielfach kritisierte Szene von Hannahs Suizid, der genauso dargestellt wird, wie es nun mal in der Realität so wäre: Kein ultimatives „Fuck you“ an die angeblichen Peiniger, kein friedliches Einschlafen, sondern qualvoller Horror, Angst, Schmerzen und verzweifelte Eltern, deren Leben sich für immer verändern wird. Wer bei dieser Szene keinen Kloß im Hals hat, begreift die gesamte Tragweite einer solchen Tat nicht.
Die Macher haben es darüber hinaus tunlichst vermieden, Hannah Baker als eindimensionales, duckmäuserisches Püppchen zu charakterisieren. Sie macht stattdessen einen Prozess durch und ist jedenfalls in den Anfangsfolgen (!) durchaus in der Lage, ihren Mitmenschen Paroli bieten zu können – wenngleich auch nicht mit der nötigen Schärfe. Man möchte Hannah zurufen, „Mensch, Mädel, lass dir doch von solchen Pfeifen nichts gefallen! Die sind es gar nicht wert, dass man sich ihretwegen die Laune verderben lässt!“ Ihre Eltern wären Hannah durchaus eine Stütze gewesen: Mutter und Vater führen eine kleine Drogerie, eine harmonische Ehe und sind jederzeit für ihre Tochter da. Dennoch vertraut sich Hannah ihnen in Bezug auf ihre Probleme kaum bis gar nicht an. Obwohl sie weiß, dass sie prima Eltern hat. Stattdessen stürzt sie sie in ein unbeschreibliches Elend. Es gibt noch einige weitere Beispiele, die zeigen: Die Figur der Hannah Baker hat Ecken und Kanten, ist vielschichtig und interessant geschrieben.
Gleiches gilt im Übrigen auch für (fast) alle weiteren Charaktere. Die Wenigsten sind nur „gut“ oder nur „böse“; stattdessen halten konsequente und glaubwürdige Entwicklungen die Spannung aufrecht und man möchte wirklich unbedingt wissen, wie es mit den Protagonisten weiter geht. Als Beispiele seien hier besonders Justin, Alex, Jessica und sogar Co-Hauptcharakter Clay genannt, bei denen man allesamt selten zu hundert Prozent weiß, woran man bei ihnen ist. Natürlich kommt auch „13 Reasons Why“ nicht ohne die eine oder andere Klischee-Figur aus (der Tough-Guy-Verstehertyp, das sich ritzende Gothic-Mädel), aber diese sind die Ausnahme. Die meisten Rollen hinterlassen mit ihrer spannungsvollen Beschreibung Eindruck beim Zuschauer und man erwischt sich dabei, dass man auch die Hintergründe von Nebenfigur XY unbedingt erfahren will. Dies ist genau das, was eine starke Fernsehserie aus der immensen Masse ihrer Kontrahenten herausstechen lässt.
Da stört es auch kaum, dass sich „13 Reasons Why“ in ein, zwei Folgen der Staffel-Mitte in der Tat ein paar Hänger leistet. Ich möchte nicht von Stagnation schreiben, aber der Qualitätsunterschied ist erkennbar. Die Einstiegsfolgen reißen den Zuschauer problemlos mit, die letzten drei Episoden sind in Sachen Emotionalität und Dramatik kaum zu überbieten.
Dabei hätte vieles auch daneben gehen können, wenn man bei der Darstellerauswahl ins Klo gegriffen hätte. Denn der Stoff ist anspruchsvoll und mit Grausen erinnere ich mich an die untalentierte Schauspielerriege beispielsweise aus der kürzlich veröffentlichten „Scream“-Serie. Doch welche Muse Barbara Fiorentino auch immer hold war, sie verdient den Fleißpreis. Nahezu alle Darsteller liefern absolute Glanzleistungen ab, sowohl die etwas ältere Auswahl, als auch die zahlreichen Nachwuchsstars.
Für die Australierin Katherine Langford ist „Hannah Baker“ die erste große Rolle und wenn die Dame nicht völlig am Rad dreht, dann werden noch viele, viele hinzukommen. Ohne erkennbaren Akzent und wie eine „Alte“ liefert Langford durchweg großes Kino und es müsste schon mit dem zwiefach Gehörnten zugehen, wenn ihr eine bedeutende Rolle in Hollywood verwehrt bleiben würde. Co-Star Dylan Minnette hat bereits ein paar Erfahrungspunkte mehr gesammelt (Gänsehaut, Prisoners) und steht Langford kaum nach. Sein Clay ist ein stiller, Chucks tragender Einzelgänger, den der Zuschauer auf der Reise durch Hannahs Leidensgeschichte begleitet. Warum ausgerechnet der eher in sich gekehrte Clay eine entscheidende Rolle spielt, wird erst später, wenngleich überraschenderweise nicht am Schluss deutlich. Diese Tortur verändert Clay und Minnette ist absolut fähig, die Hauptrolle während der Gegenwartsszenen auszufüllen und jene zu tragen.
Des weiteren seien noch Alisha Boe (Teen Wolf), Miles Heizer (Nerve) und Brandon Flynn genannt, die, bei gleich bleibender Arbeitsauffassung, bestimmt noch das eine oder andere Wörtchen in der Film- und Fernsehwelt mitreden werden.
In der Kategorie Erfahrung stechen besonders Kate Walsh (Grey’s Anatomy, Private Practice) und Amy Hargreaves (Homeland) als die Mütter von Hannah, bzw. Clay heraus. Während Hargreaves als Anwältin der Schule hin und her gerissen ist zwischen ihren beruflichen Pflichten und ihrer Verantwortung für ihren Sohn, hat Walsh die Herkulesaufgabe zu meistern: Ihre Filmtochter tot aufzufinden. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber trotzdem: Wer hier nicht emotional berührt ist…
Kleine Randnotiz: In einer weiteren Nebenrolle darf auch Sosie Bacon, Tochter des one and only Valentine McKee, ihre Karriere vorankurbeln.
Abschließend sei noch angemerkt, dass „13 Reasons Why“ bekanntermaßen um eine zweite Staffel verlängert wurde. Diese wird nun ohne eine direkte Vorlage Jay Ashers realisiert und man darf durchaus gespannt sein, ob die Verantwortlichen dieses Unterfangen bewerkstelligen können. Season eins lässt viele Fragen offen, zudem hat es beträchtlich den Anschein, dass Hannah (klasse Palindrom, übrigens!) noch weitere Geheimnisse verbirgt. Die Neugierde ist geweckt und das ohne die bei der Konkurrenz zu oft und erzwungen wirkende Holzhammermethode.
Fazit:
Eine der besten (Mini-)Serien seit langer, langer Zeit. „13 Reasons Why“ war in seiner Entstehung durchaus ein gewagtes Unterfangen, das Ergebnis bietet jedoch in allen Belangen große Klasse. Die Verantwortlichen gehen die zahlreichen, brisanten und bisweilen grausamen Themen mit dem nötigen Können an; werfen einen kritischen Blick auf die Abgründe der rosaroten US-Kleinstadtschulenwelt und zeigen die Ohnmacht von Opfern, wenn sie versuchen, sich aus zweiter Hand Hilfe zu holen. Umgesetzt wird dies alles mit einer bedrückenden Atmosphäre, feinen technischen Kniffen und einer durch die Bank weg hervorragenden Darstellerriege. Mein Tipp: Unbedingt ansehen!
Kommentare
15.06.2017 12:45 Uhr - Intofilms |
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15.06.2017 15:53 Uhr - Kaiser Soze |
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15.06.2017 18:26 Uhr - Dr. Jones |
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15.06.2017 18:55 Uhr - NoCutsPlease |
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![]() DB-Helfer ![]() ![]() |
Griffig, bissig und rhetorisch rund - eben echt clemensorisch!
Schön, dass du mal wieder am Start bist. |
15.06.2017 19:24 Uhr - Calahan |
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15.06.2017 21:06 Uhr - TheRealAsh |
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15.06.2017 22:19 Uhr - Clemens |
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19.06.2017 09:15 Uhr - JasonXtreme |
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Super Rezi zu einer hervorragenden Serie!!!
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