Ich möchte einmal anders beginnen und zuerst ein paar Fakten nennen. Film aus dem Jahr 1965 ist ein 22-minütiger Kurzfilm des Regisseurs Alan Schneider, der hauptsächlich im Theater tätig war. Film ist schwarz-weiß, bis auf ein einziges Geräusch stumm und wurde von Kameramann Boris Kaufman quadriert, der schon Die Faust im Nacken oder Die zwölf Geschworenen auf Zelluloid bannte.
Es gibt insgesamt vier Schauspieler, eine Katze, einen Hund, einen Goldfisch und einen Papagei. Die Folksängerin Susan Reed spielt eine alte Frau, Nell Harrison (Frühling für Hitler, 1967) und James Karen (Mulholland Drive) spielen Passanten und Katze, Hund und Papagei spielen sich selbst.
Hauptdarsteller ist die (Stumm-)Filmikone Buster Keaton, den man zum Beispiel von The General oder The Cameraman kennt, um nur zwei von diesem Ausnahmetalent herauszugreifen, die mir persönlich am Herzen liegen. Keaton spielt einen Charakter namens O, was für soviel wie Objekt stehen soll, aber nicht muss.
Der eigentliche Name, mit dem Film allerdings verknüpft wird, ist der irische Literaturnobelpreisträger Samuel Beckett, der das Drehbuch schrieb. Am bekanntesten ist Beckett sicher für sein postapokalyptisches Theaterstück Warten auf Godot, in dem letztlich nichts passiert, außer dem Umstand, dass zwei Männer auf einen gewissen Godot warten, der nicht kommt.
Becketts Werk kann man sicher unglaublich langweilig finden, wiederholend und völlig handlungsarm. Dennoch gibt es vielleicht nichts spannenderes zu lesen, da Beckett es schafft die Irrealität der Existenz treffend zu beschreiben. Kann man mögen oder nicht. Für mich ist Beckett sowas wie ein Säulenheiliger, dessen Sätze mich seit meiner frühen Jugend begleiten, da ich völlig unabsichtlich von meiner Tante einmal einen Sammelband mit Erzählungen für den Herbst gekriegt habe, in dem ein Ausschnitt von Beckett drin war, der mich unglaublich geprägt hat und sich um einen Jungen drehte, der seiner Mutter klar machen wollte, dass der blaue Himmel in Wirklichkeit viel näher da ist, als es aussieht und gleichzeitig viel weiter weg. Die Mutter hat das leider nicht verstanden, was den Jungen unglaublich traurig machte.
Soweit so gut. Kommen wir zu Film. Ab hier folgt wieder ein USERFRIENDLYSPOILER:
Das erste, was wir sehen, ist das Auge eines scheinbar alten Mannes in Nahaufnahme, das aufgeschlagen wird. Danach sehen wir eine Mauer, über welche die Kamera langsam schwenkt, hinunter auf eine Straße. Ein Mann mit Hut und verhülltem Gesicht, den wir die ganze Zeit nur von hinten sehen, irrt an der Mauer entlang, stolpert auf zwei Passanten zu, welche sich ansehen, mit der Hand vor dem Mund um Ruhe bitten und schließlich erschrocken in die Kamera blicken und sich mit einem schmerzverzerrten Blick abwenden.
Der Mann (Keaton, O) kommt schließlich zu einem Haus. Auf dem Kopf unter seinem Hut trägt er ein Taschentuch, wie man erkennt. Er traut sich nicht das Treppenhaus hochzusteigen. Eine alte Frau mit einem Blumenkorb kommt die Treppe herab, blickt ebenfalls erschrocken in die Kamera, wendet ihren Blick ab und bricht am Boden zusammen. Der Mann rennt die Treppe hoch und verschwindet in seiner Wohnung.
Die Wohnung ist karg eingerichtet. Leere Wände, ein Bett, ein Schaukelstuhl, ein Spiegel, ein Tischchen, das Bild einer alten Gottheit an der Wand, ein Körbchen mit einem Hund und einer Katze, ein Glas mit einem Goldfisch und ein Papagei in einem Käfig.
Der Mann beginnt das Fenster zu verhüllen und trägt die Katze zur Tür, um sie herauszusperren. Nachdem er den Hund holt, um diesen ebenfalls herauszusperren flitzt die Katze wieder in die Wohnung. Das wiederholt sich ein paarmal, bis Hund und Katze endgültig draußen sind.
Dann blickt O auf den Schaukelstuhl, an dessen Kopfende eine Verzierung ist, die aussieht, als wären zwei kleine Spiegel eingefügt, die wie zwei Augen aussehen. Die Kamera schwenkt hinter O herum, der sich in den Schaukelstuhl setzt und das Bild mit der Gottheit betrachtet. Er nimmt es von der Wand und zerreißt es. In der Wand bleibt nur noch ein Nagel. Mit seinem Mantel verhüllt er den Käfig des Papageis und das Goldfischglas.
Nun setzt sich O wieder in seinen Schaukelstuhl, nimmt eine Mappe und holt aus ihr ein paar Fotos heraus. Er betrachtet eine Mutter mit einem Baby, eine Mutter mit einem Kind, einen Jungen mit Hund, einen jungen Mann bei einem Hochschulabschluss, einen Mann und eine Frau, einen Mann mit Kind und schließlich einen einsamen alten Mann mit Hut und einer Augenklappe, der sehr verdächtig nach O aussieht.
Wütend zerreißt O die Fotos Stück für Stück. Danach fühlt er seinen Puls. O schläft ein. Die Kamera dreht sich um den Schaukelstuhl und O erwacht. Die Kamera geht wieder zurück. O schaukelt und schläft wieder ein. MIt einem 360-Grad-Schwenk dreht sich die Kamera durch den ganzen Raum auf O zu, den wir schlafend endlich von vorne mit seiner Augenklappe sehen. Ja, er ist der Mann vom Foto.
O wacht auf und erschrickt, als er merkt, dass er beobachtet wird. Sein Mund steht offen und scheinbar erkennt er im Spiegel sich selbst oder seinen Doppelgänger, der wie ein Gespenst ihn oder sich selbst ansieht. Os Gesichtszüge entgleißen vor Schreck. Er lehnt sich zurück in den Schaukelstuhl und schließt die Augen, legt die Hände vor sie, blickt erneut seinem Spiegelbild ins Auge. Dann schließt er wieder seine Augen. Film endet wie er angefangen hat.
Wir sehen in das Auge des alten Mannes, das sich am Ende schließt.
USERFRIENDLYSPOILERENDE
Nachdem ich nun ein paar Fakten genannt habe und die Handlung des Films quasi so objektiv wie möglich nacherzählt habe, möchte ich noch meine Eindrücke oder Ideen zu Film erläutern. Ich verzichte dabei bewusst auf irgendwelche anderen Interpretationen, kann es aber wahrscheinlich nicht vermeiden, dass manches ähnlich ist.
Zuerst einmal erinnert mich die Grundstimmung von Film zu Beginn und insgesamt sehr an David Lynchs Eraserhead und man kann annehmen, dass Lynch Film sicherlich gekannt hat. Das, was bei Lynch die "industrial landscape" ist, vor der Henry immer wieder fast verschwindet, ist auch bei Film die Mauer, vor der sich O schützen und verstecken will. Die Absurdität der ersten Begegnungen mit den Passanten, mit der alten Frau und die komödienhafte Einlage mit Hund und Katze haben ebenfalls etwas sehr surreal-lyncheskes (das Taschentuch auf dem Kopf von O erinert mich meines Erachtens sogar in Anklängen an Der Elefantenmensch).
Die Kamera steht in Film natürlich ebenfalls als handlungstragende Schauspielrolle im Geschehen. Sie beobachtet O und wir beobachten O. Die Augenklappe von O macht ihn zum kameraartigen Zyklopen, da die Kamera (meist) nur ein Auge hat.
Bei Film gibt es keinen Spaß, keine Hoffnung und kein Leben. Alles ist grau und unglaublich deprimierend. Alles ist vorbei. Das Gottesbild an der Wand ist nur ein lausiges Foto aus einer Illustrierten. Die Fotos, die sich O betrachtet, sind ein ganzes Leben, das jeder nachvollziehen kann und das sogar recht erfolgreich und glücklich aussieht und doch hilft alles nichts. Es geht nicht weiter. O ist am Ende. Er kann sich nicht im Spiegel ansehen. Er kann diesen alten Mann mit der Augenklappe nicht ansehen. Und doch weiß er, dass er angesehen wird. Nur wenn wir O sehen, exisitert er. Das ist der Schrecken der Existenz.
Aber dieses Gesehenwerden ist unerträglich. Nicht einmal die Augen des Goldfischs sind zu ertragen. Das Kameraauge im Rücken tut sein übriges. Es ist wie ein Verfolger, der O ständig im Rücken hängt, den er nicht loskriegt. Der Spiegel ist das Schlimmste. In ihm blickt man sich selbst ins Gesicht. Das ist für O nicht zu ertragen.
Wenn es in Film um das Sehen geht, dann zeigt uns Film, dass es im Film insgesamt um das Sehen und Gesehenwerden geht. Nicht gerade Schonkost fürs Kino, so aber doch Rohkost für das Kino in uns allen.
Film ist wie Der andalusische Hund ein Meilenstein der Filmkunst, der zu Unrecht weniger bekannt ist.
Wer also mal was völlig anderes sehen möchte, der soll einen Blick wagen und nicht erschrecken, wenn er am Ende sich selbst sieht.
Etwas nachdenklich und mit einem meiner Lieblingssätze von Beckett möchte ich mich heute aus meiner Hütte im Wald verabschieden:
"Dahin ginge ich, wenn ich gehen könnte, der dort wäre ich, wenn ich sein könnte..."
10/10