Ein Film spaltet die Nation
Griffith
Das Œuvre des US-Regisseurs David Wark Griffith (1875 – 1948), der über 500 Filme – die meisten davon Einakter – drehte, gilt als Meilenstein in der Entwicklung des Films auf dem Weg zur Kunst. Griffith galt und gilt als Filmpionier schlechthin, seine Werke ebneten den Weg für das Medium Film und sein handwerkliches Können wirkte bahnbrechend für zahlreiche Neuerungen in der Filmtechnik.
Griffith arbeitete zunächst ab 1896 als Gelegenheitsarbeiter und Theaterschauspieler bei einer Wandertruppe. 1907 wurde er von der Biograph-Produktionsgesellschaft engagiert. Auf einen Auftritt in Edwin S. Potters „Aus einem Adlernest gerettet“ folgte 1908 die erste Regiearbeit „Dollys Abenteuer“ mit Mary Pickford. Griffith stieg bald zum Starregisseur der Biograph auf und drehte in rascher Folge Dutzende von Einaktern, ab 1912 auch Zweiakter. Ein Jahr später warb ihn die Mutual als Spezialist für Großfilme an. Überzeugt, dass Filme, wenn sie das Publikum wirklich bewegen sollten, umfangreicher sein mussten, drehte er 1914 einen der ersten Vierakter der Filmgeschichte: „Judith von Bethulien“. Für die Produktion von „Die Geburt einer Nation“ („Birth Of A Nation“) errichtete Griffith eine eigene Produktionsgesellschaft. 1915 gehörte er mit Thomas Harper Ince und Mack Sennett zu den Gründungsmitgliedern von Triangle. Nach Propagandafilmen (fast alle mit den Schwestern Dorothy und Lillian Gish) hob er 1919 zusammen mit Charles Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford die United Artists aus der Taufe. Nach dem Misserfolg von „Intoleranz“ (1916) – nicht nur das Publikum, auch die zeitgenössische Kritik reagierte ablehnend auf das komplizierte, ehrgeizige Großprojekt – wurde Griffith’ erster United-Artists-Film „Gebrochene Blüten" (1919) wieder allgemein als Meisterwerk anerkannt. Auch in den 20er Jahren war Griffith äußerst produktiv, der große Wurf blieb ihm jedoch versagt. Zu den bedeutenderen Streifen seines Spätwerks gehören „Ist das Leben nicht wunderschön?“ (1924), der im Berlin der Inflationszeit spielt, und sein erster Tonfilm „Abraham Lincoln“ (1930). Nach dem Misserfolg von „Der Kampf“ (1931) zog sich der Regisseur verbittert aus dem Filmgeschäft zurück. Kurz kehrte er 1936 als Second-Unit-Regisseur und Regieassistent in dem Katastrophenspektakel „San Francisco“ und als Produzent von „Tumak, der Herr des Urwalds“ (1940) zurück. Als er im Alter von 73 Jahren starb, war einer der größten Meister der Filmkunst – trotz eines Ehren-Oscars von 1936 – fast vergessen.
Griffith‘ Bedeutung für die Filmgeschichte ist unumstritten. Zu den technischen, erzählerischen und künstlerischen Neuerungen, mit denen er den Filmen eine genuine Sprache gab, gehörten der Wechsel der Kameraperspektive innerhalb einer Szene – erst seit David W. Griffith gilt nicht mehr die Szene, sondern die Einstellung als Grundelement des Films -, die Auf- und Abblende, der Wechsel des Bildformats und der Einsatz von Lichteffekten zur Schaffung einer bestimmten Atmosphäre. Griffith machte den entscheidenden Schritt weg von der Statik des Theaters. Insbesondere durch seine Schnitttechnik wurde er zum Vorbild für die russischen Revolutionsfilmer wie Sergei M. Eisenstein.
Der erste moderne Film
Die Australier hatten „The Story of the Kelly Gang“ (1906), die Russen „Oborona Sevastopolya“ („Die Verteidigung von Sewastopol“, 1911), die Italiener „Dante’s Inferno“ (1911), „Quo Vadis?“ (1913) und „Cabiria“ (1914), doch mit „Die Geburt einer Nation“ setzte sich Griffith selbst ein Denkmal, und das zu einer Zeit, als er mit „Intoleranz“ ein weiteres Werk schuf, welches ebenfalls als „Höhepunkt in der Geschichte des amerikanischen Films“ bewertet wurde. Keiner der genannten Kolossalfilme konnte es mit der Bekanntheit und der Formvollendung von Griffith‘ Werk aufnehmen.
Der über drei Stunden lange Streifen gliedert sich in vier Teile: Während der Prolog die Vorgeschichte von Sklavenhandel und Antisklavereibewegung umreißt, schildert der erste Hauptteil den Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten von 1861 bis zur Ermordung Abraham Lincolns 1865. Der zweite Hauptteil behandelt die Periode der „Rekonstruktion“, d. h. des Wiederaufbaus des unterlegenen Südens, sowie die Versuche der dort lebenden Weißen, ihre Vorherrschaft gegen die befreiten Sklaven zu behaupten. Der Epilog feiert das Wiedererstarken der Südstaaten als „Geburt einer Nation“. Die historischen Ereignisse werden in die Schicksale zweier Familien, der Stonemans aus Pennsylvania und der Camerons aus South Carolina, eingebettet. Der Krieg, dem mehrere Mitglieder beider Clans zum Opfer fallen, zerreißt die Bande zwischen den Familien. Nach dem Sieg des Nordens engagiert sich ein Stoneman für die Verwirklichung der Rassengleichheit in den Südstaaten, während sich ein Cameron, dessen Schwester von einem schwarzen Soldaten in den Tod getrieben wurde, dem Ku-Klux-Klan, einer rassistischen, ultranationalistischen, christlich-fundamentalistischen Organisation von Weißen, anschließt. Da aber die Ideale der Stonemans angesichts der Lynchjustiz der Schwarzen zerfallen, finden die Familien wieder zusammen.
Hier gelang es dem Regisseur die Jahrmarktsattraktion Kino zur Kunstform zu erheben. Er benutzte das unterschätzte Medium, um die Gefühle der Zuschauer zu manipulieren. Sie sollten nicht mehr nur zusehen, sondern das Schicksal der Figuren auf der Leinwand teilen. Zu diesem Zweck erfand und/oder perfektionierte Griffith fast alle heute als selbstverständlich geltenden filmischen Stilmittel: den Schnitt auf den ein Gegenschnitt folgt, Einstellungswechsel, um zwei Handlungsstränge parallel zu erzählen, die atmosphärische Detailaufnahme, Wechsel von extremer Totalen zur Nahaufnahme, die bewegte Kamera, Schwenks und vor allem - die Großaufnahme (Chef-Kameramann war der seit 1895 beim Film tätige G. W. Bitzer). Nie zuvor waren Schauspieler aus solcher Nähe zu sehen gewesen. Von Lillian Gishs Gesicht konnten die Zuschauer jede Emotion ablesen, ohne dass die sanfte Schöne nach Art der Stummfilmstars übertrieben grimassieren musste. Gish (1893 – 1993) hatte übrigens eine extrem lange Schauspielkarriere, die von 1902 bis 1987 andauerte, und u. a. Klassiker wie „Duell in der Sonne“ (1947, Oscar-Nominierung als Beste Nebendarstellerin) und „Die Nacht des Jägers“ (1955) beinhaltet.
Neben der revolutionären Technik war „Die Geburt einer Nation" auch in anderer Hinsicht außergewöhnlich. Er verhalf der Kinematographie zu einem bis dato nie gekannten Status. Schon die Werbekampagne, die eigens für diesen Film anlief, stellte alles bis dahin Dagewesene in den Schatten. Monate vor der Premiere kündigten riesige Plakate das Ereignis an, in der Tagespresse erschienen großformatige Anzeigen, und die Vorführungen selbst wurden so detailliert geplant und durchgeführt, dass der Film zum ersten Mal eine echte Konkurrenz zum Theater darstellte.
Mit „Die Geburt einer Nation“ sicherte der Filmemacher die Vormachtstellung der US-Filmbranche. An den Kinokassen wurde Griffith‘ Geniestreich reich belohnt. Der für 100.000 Dollar gedrehte Streifen spielte bis 1931 18 Millionen Dollar ein – der erfolgreichste Stummfilm überhaupt. Noch heute ist das Meisterwerk zutiefst beeindruckend. Doch der Rassismus des Drehbuchs (basierend auf den Romanen "The Leopard’s Spots" und "The Clansmen" von Thomas F. Dixon, einem baptistischen Reverend), die Verherrlichung der Lynchjustiz und die Verteufelung der befreiten schwarzen Sklaven hinterlassen beim zeitgenössischen Zuschauer einen üblen Nachgeschmack. Als „Gentleman aus den Südstaaten“ drehte Griffith dieses Monumentalepos nämlich aus der Sicht der unterlegenen Konföderation und verhehlte dabei nicht seine Sympathie für die „weiße“ Denkweise. Die Schwarzen erscheinen als instinktgeleitete Menschen, die der Gängelung bedürfen. Daraufhin kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Bürgerkriegs-Parteien. Die Darstellung führte zu heftigen Protesten von Anti-Rassismus-Organisationen und zu massiven Kontroversen im ganzen Land. Krawalle auf den Straßen und die Diskussion um die rassistischen Tendenzen des Streifens ließen vergessen geglaubte Emotionen wieder aufflackern. Nach der Premiere wurde der seit den 1870er Jahren größtenteils in Vergessenheit geratene Ku-Klux-Klan wieder neu gegründet. Zeitweillig überlegte man sogar, ob man den Film nicht beschlagnahmen sollte. Griffith selbst fühlte sich zutiefst missverstanden und bewies damit eine gehörige Portion Naivität angesichts des politischen Zündstoffs, den sein Film enthielt. Doch auch der Regisseur war nach einiger Zeit selbst der Ansicht, dass sein Film zu rassistisch geraten war. Als Wiedergutmachung und Reaktion auf den Vorwurf des Rassismus gegen „Die Geburt einer Nation“ drehte Griffith sein biblisches Monumentalepos „Intoleranz“, von der Liebe zwischen den Menschen, die alle Klassen und Rassen überwindet. Anhand von vier parallel erzählten historischen Ereignissen, illustrierte der Regisseur, dass Intoleranz seit alters her das menschliche Handeln bestimmt. Der Film wurde ein finanzieller Misserfolg, da er wegen seiner pazifistischen Aussage nicht in eine Zeit passte, in der die USA zum Eingreifen in den Ersten Weltkrieg rüsteten.
Fazit
Künstlerisch wird das organisatorisch und logistisch überaus aufwendige Werk einhellig positiv beurteilt, gelingt es dem Regisseur doch, eine dem Medium Film angemessene Sprache zu finden. Die vielschichtige Handlung wird durch kluge Schnitte und eine ausgefeilte Montagetechnik in eine suggestive, dem Inhalt angepasste rhythmische Form gebracht. So werden die Ereignisse sowohl von außen wie auch aus dem individuellen Erleben des einzelnen Soldaten heraus geschildert. Außerdem agieren die Schauspieler für einen Stummfilm schon beinahe außergewöhnlich natürlich.
Allerdings: „Die Geburt einer Nation“ IST umstritten. Der Film IST rassistisch konnotiert. Er IST jedoch auch ein Meisterwerk. Formal exzellent, geschichtlich bedeutend, von der Aussage äußerst dubios. Eine Bewertung fällt schwer. Letztendlich:
8/10